Die Nacht näherte sich
ihrem Höhepunkt; der Mond brannte in Iljas Fenster, still und behaglich. Es
war, als würde er einen leisen Monolog führen und Ilja konnte nicht anders, als
zuzuhören und zu erwidern.
„Bist du müde?“, fragte
der Erleuchtete.
„Ja, das bin ich. Ich bin
der ewigen Grübelei und der Suche überdrüssig. Ich bin meiner Selbst müde.
Hattest du dich selbst und deine Existenz schon einmal satt?“ … Ilja konnte seinen
gebannten Blick nicht vom weisen Freund reißen.
„Nein, ich bin mir meiner
Selbst und meiner Bedeutung für Alles, Was Ist, bewusst“.
Ilja hielt inne und
stellte sich vor, wie es wäre, sich der eigenen Bedeutung bewusst zu sein. Was,
wenn er sich bloß der eigenen Bedeutungslosigkeit bewusst würde?
Er richtete seinen Blick
erneut auf den Mond:
„Verkraftest du das, was
du erkennst?“
„Ja, das tue ich – Ich spreche
zu Menschen und zu Wassern; ab und an heiße ich gar die Menschen bei mir
willkommen … Es gab Zeiten, da sprach ich zu ganz anderen Wesen. Ich nehme die
Bedeutungslosigkeit des Lebens und meine eigene an – sie ist Teil des Spiels.“ …
„Welchen Spiels?“, Ilja
horcht auf.
„Des Spiels der Evolution.
Alles, Was Ist, expandiert immer mehr. Es wird zwar immer etwas sein; jedoch
hat alles, was ist, einen Anfang und ein Ende …“.
Hieß es, dass auch Gott
einen Anfang hatte und ein Ende haben würde? Ilja war verwirrt; dieser Gedanke
erschütterte die Grundmauern seiner Realität … Der Mond lächelte gütig.
„Habe keine Angst, Ilja.
Es ist nicht nötig, die Welt zu verstehen, um in der Welt zu sein – du und ich,
wir sind der beste Beweis dafür …“.
Der Wind brachte einen
Hauch von Wermut und dem schläfrig anmutenden Lavendel durch das geöffnete
Fenster; Nebel breitete sich in Iljas Gemüt und Verstand aus.
Langsam und friedlich verfärbte sich der Mond rot und
versteckte sich schüchtern hinter vorbeiziehenden Wolken. Ihre Schatten zierten
die Wände mit einem wunderlichen Spiel voller Sehnsucht und Leben. Von
dem Fuße des Fensters erstreckte sich ein tiefer, blauer Fluss, wie eine Straße
mit Biegungen und einer Kreuzung.
Die bewaldeten Inseln, an der Spitze wie Sahnehäubchen mit Schnee bedeckt, verschmolzen mit der flockigen Umrandung azurweißer Cirrocumuli.
Die bewaldeten Inseln, an der Spitze wie Sahnehäubchen mit Schnee bedeckt, verschmolzen mit der flockigen Umrandung azurweißer Cirrocumuli.
Ein
blauer Schleier lag über der Landschaft. Die Wolken, die Schneeflöckchen, das
Wasser, die Wälder der Inseln – über all dem hatte der Himmel seinen azurhaften
Atem ausgebreitet. Der Schleier trieb den Fluss an oder wurde von ihm getragen
und es war nicht zu unterscheiden, ob es dunkelblauer Tag ist oder eine
hellblaue Nacht. Die Zeit ruhte
Der Wecker klingelte und
Ilja starrte wütend drauf. Die Müdigkeit war unüberwindbar; er kämpfte kurz mit
dem schlechten Gewissen, der Faulheit zu frönen, aber die Tatsache, dass es für
ihn keinen zwingenden Grund gab, um aufzustehen, siegte und er blieb liegen.
Was ist schon ein
einziger Tag, inmitten der vielen verlorenen? Auf den einen mehr oder weniger
kam es nicht an, nicht mehr. Und der Seelenfrieden, mit dem eine mögliche
Antwort lockte, schien so nahe …
Was bedeutete Leben? War
es eine Aneinanderreihung der Ereignisse, vom Zufall emporgebracht oder
befolgte es den geheimnisvollen Plan eines allwissenden Schöpfers?
Ilja dachte über seine
Geschichte nach. Ilja hatte seine Geschichte satt. Sie war mehr als sein Leben
– sie war die Rechtfertigung seines Lebens. Und er hatte es noch immer nicht
geschafft, ihren Sinn zu ergründen; so gesehen, plätscherte seine Geschichte
vor sich hin und Ilja war ihre traurige Konstante.
Kaum, dass er sich
eingestanden hatte, nie rebellieren zu wollen, fing sein Inneres an zu brodeln.
Er spürte die Wut. Auf wen war er nur wütend? Er ging im Kopf alle durch, die
ihm irgendwie bekannt waren; es war niemand bei, der seinen Zorn verdient
hätte. Er war es selbst, er ganz allein. Er hat sich derart in fremden
Erwartung aufgelöst, bis er nicht länger wusste, wer er war; er war zu feige
und zu träge, um es herauszufinden. Und jetzt starrte er die Decke seines
Schlafzimmers an und suchte nach einem Grund, um den Tag zu beginnen. Aber es
schien keinen zu geben.
Das Leben ist nichts
weiter, als die Freiheit, in der Fülle der Möglichkeiten eine Wahl treffen zu
dürfen; es bringt den Zwang dieser Wahl mit sich, und selbst die völlige
Passivität, wie die, in der Ilja verharrte, ist eine getroffene Wahl und birgt
ihre Konsequenzen. Ilja wählte stets die Enthaltsamkeit – auf diese Weise hatte
er das Gefühl, die eigentliche Entscheidung später noch treffen zu können und
erkannte nicht, dass er sich bereits entschieden hatte …
Der Tod beendet diese
Freiheit und alle damit verbundene Möglichkeiten; jenseits des Lebens ist jede
Entscheidung in der Liebe aufgehoben.
In der bunten Vielfalt
des Lebens sah Ilja seines Willens Antlitz. Dieser schlafende Wille war seines
Lebens Wärter und Urgrund …
Jenseits, in der Schwebe
der Liebe, sind alle Entscheidungen und Bestrebungen obsolet. Warum musste
Leben sein; warum war es nicht möglich, jenseits des Lebens, in der Liebe zu
bleiben?
Aber das Leben ist
unvermeidlich, genauso wie der Tod, weil er uns vom Leben erlöst. Das Streben
ist das einzige Ziel des Lebens; konkrete Ziele sind austauschbar, sie spielen
keine Rolle – das Streben an sich ist es, was das Leben ausmacht.
Wonach strebte Ilja in
den ersten vierzig Jahren seines Lebens? Er drückte sein Gesicht in die Kissen.
Er strebte allein danach, fremde Erwartungen zu erfüllen – weil er scheinbar
keine eigenen hatte; keine, außer der, zu gefallen, um geliebt zu werden.
Jemandem zu widerstreben, sich gegen jemanden oder etwas aufzulehnen, schien
ihm nicht denkbar. Er hatte noch nie angeeckt, war nie beleidigend und gab sich
die größte Mühe, stets die richtige Meinung zu vertreten.
Gab es noch einen Ilja
unter diesem Deckmantel? Wer war er wirklich? Wenn es keine Umwelt gäbe, dessen
sanfte Formung er so deutlich vernahm, wie würde er dann sein? Hätte er Lust,
betrunken auf dem Tisch zu tanzen? Oder den muffelnden Nachbarn anzupöbeln?
Vielleicht einer Frau hinter zu pfeifen? Was musste er tun, um das heraus zu
finden?
Die Uhr schlug Mittag; es
war zu spät, um große Pläne für den Tag zu machen. Für den Rest dieses Tages
hatte er allein das Streben, herauszufinden, wie er von sich aus sein wollte. Er
strebte nach dem Streben; was wollte er tun? Wie wollte er sein?
Er hatte schon so viele
Stürme, Zweifel und Erkenntnisse erfahren. Und jetzt lag er in diesem spärlich
möblierten Zimmer mit weißen Wänden, starrte die Decke an und dachte an sein
schweres Herz. Warum war es schwer? Hatte er gelitten? Ilja richtete sich auf
den Ellenbogen auf uns sah an sich herunter. Nein, er fühlte kein konkretes
Leid; ihm fiel auch kein Umstand ein, der beseitigt werden sollte, damit die
Schwermut gehen kann. Dennoch war eine Schwermut da.
Wie kam Leid in Iljas
Welt? Was ist Leid überhaupt? Ist es ein Gegenteil von Glück? Lässt sich Glück
an einem bestimmten Ereignis ausmachen? Das Leid schon. Kann Leid durch Glück
aufgehoben werden? Das Glück kann es …
Dem Leben ist ein Streben
mit in die Wiege gelegt. Diese Sehnsucht zu stillen, dem Rufe der Seele zu
folgen, das macht das Streben aus; das ist die einzige Konstante, die dem Leben
abzugewinnen ist.
Die Schwierigkeit der
Menschen besteht darin, dass sie sich häufig über die tieferen Beweggründe
ihres Handelns nicht bewusst sind. Sie tun all die Dinge, die sie tun, im
Glauben, damit ein ganz konkretes Ziel zu erreichen, ihre Existenz zu sichern
oder ein Unglück abzuwenden, welches ihnen oder ihrer Familie schaden könnte.
Auch das sind auf Glückseligkeit gerichtete Bestreben, denn ein Mensch, der so
handelt, ist glücklich, wenn er seine Familie beschützt weiß. Wenn dieser
Mensch sein Leben bewusst darauf ausrichten würde, würde er, anstatt ein
innerlich verängstigter Beschützer zu sein, der stets bemüht ist, die nächste
Katastrophe abzuwenden, sich zu einem mutigen Menschen entwickeln, der weit-
und umsichtig seine Lieben durch das irdische Leben führt. Ein solcher Mensch
wäre ein Beschützer, kein Opfer der Umstände, das geradeso das Unglück
verhindern konnte und jetzt hofft, es beim nächsten Mal auch irgendwie zu
schaffen. Das Bewusstsein um das Getane, das ist es, was ein Mensch braucht, um
dessen Sein dieser seiner Bestimmung zu überlassen.
Würde sich Iljas Schwermut
ändern, wenn er annehmen könnte, dass er ein unsicherer Mensch, voll des
Wunsches nach Liebe und Akzeptanz ist? Und dass alles, was er getan, nicht von
Feigheit zeugte, sondern eben dieser Sehnsucht untergeordnet war? Ilja war noch
immer nicht weise genug für diese Einsicht. …
Wie kam das Leid in das
Leben? Die Schatten an der Wand verfärbten sich rot und verhießen wundersame
Landschaften. Ja, das Universum expandiert. Alles, was ist, hat einen Anfang
und ein Ende. Anfang und Ende, sie können ohne einander nicht sein. Glück kann
ohne Leid nicht sein. So kommt das Leid mit dem Leben.
Dieses Prinzip liegt im Leben
selbst begründet, denn das Sein ist unumgänglich dualistisch – um der Liebe
willen bedarf es der Angst. Wie sollte sonst ein Seiendes Kälte fühlen, wenn es
keine Wärme kennt? Wie sollte es Stille hören können, wenn nie den Lärm
vernommen? Wie sollte ein Seiendes überhaupt möglich sein, ohne sich im selben
Augenblick vom Nichtseienden abzuheben?
Um seine Bestimmung des
Strebens nach dem Höheren der Liebe wahrnehmen zu können, muss der Mensch die
Wahl haben, zwischen der Liebe als Glück und der Angst als Leid. Philosophen
haben die Angst und das Leid in über die Jahrtausende in ein Vielfaches geteilt
– ein moralisches oder ein natürliches Leid, in ein gerecht- oder
ungerechtfertigtes und je nach geltender Konstitution schien dies mehr oder
weniger sinnvoll. Ungeachtet dessen blieben beide Entitäten im Raum: Das Leid
und das Streben nach dem höheren der Liebe.
Die ungezählten Gewesenen,
sie haben diese Schlacht täglich geschlagen; sie haben gelitten und ein jeder
für sich hat nach einer Antwort gestrebt. Ein jeder hat diese Antwort bekommen,
nur hat nicht jeder sie vernommen. Und diejenigen, die sie vernommen haben,
haben sie nie derart formulieren können, dass es für alle genügt hätte – dies
scheint die Lücke des Systems; es kann nicht einer für alle sprechen. Ein jeder,
noch so ehrgeiziger, Lebende ist aufgerufen, die älteste Frage der Welt stets
aufs Neue zu beantworten und die so schwer dem Leid entlockte Wahrheit genügt
nur für einen Augenblick – dann ist auch sie dahin, da das Ewige Leben ein
neues Seiendes emporgebracht.
So ist auch diejenige
Geschichte, die so viele Jahre Leid mit sich brachte auch nur in dem Moment
wahrhaftig, in dem sie vernommen wird und im nächsten verfliegt sie schon, wie
das Leben selbst….