Samstag, 18. April 2020

Steppenblume


Wann habe ich das letzte Mal die Ruhe der roten, in den unendlichen Weiten der Steppe untergehenden Sonne genossen? Es ist so lange her, es scheint in einem anderen Leben gewesen zu sein ….

…Ein Sommer im Reich meiner Sehnsucht, der Steppe. Verloren steht der Mensch inmitten des grünen Meeres, das sich am Horizont mit dem Blau des Himmels vereint. Er versucht die Stelle zu finden, an der sie sich vereinen, aber findet sie nie – die Steppe geht immer weiter, sie ist ihr eigenes Universum. Nichts schränkt den Blick ein, das Fühlen oder das Denken – der Mensch sieht alles, was er sehen kann und will, er ist wahrhaftig frei. Es existiert nichts, was ihn beeinflussen kann – verloren in der Steppe, setzt sich jeder seine eigenen Grenzen. Das Maß der Sehnsucht entscheidet über die Tiefe der Empfindung. Das schleichende Verfärben des Wermuts, das nach der langen, hitzigen Dürre den Herbst ankündigt, die Luft, die immer weniger nach heißer Erde riecht und der Himmel, der aus einem Azurblau zu einem immer undurchsichtigeren Grau sich verneigt und die Trauer des Regens annimmt. Das alles ist da, direkt vor des Menschen Augen und doch braucht der Mensch mehr, als nur seine Augen, um all das sehen zu können.
Der Glaube, Freiheit ließe sich in einer politischen Struktur ausdrücken, ist töricht und anmaßend. Freiheit ist die Wahl, etwas zu tun oder zu unterlassen – und es gibt nur einen Weg, den Menschen dazu zu bringen, diese Wahl zu treffen: Man lasse ihn inmitten einer gefühlten Steppe, in einem gefüllten Vakuum, bis er resigniert oder, nachdem die Sehnsucht seine Seele bis an die Grenze des erträglichen überflutet hat, explodiert und beginnt, zu sehen. Das Nichts ist nichts weiter als die übersehene Fülle. …

Schmerzlich nahm ich Abschied von den Düften, den Winden und dem Flüstern des bitteren Wermuts, die mir von den fernen Welten erzählten, die auf mich warteten.
Wir versprachen einander die ewige Treue. Nie würde mein Herz etwas anderes begehren, als das Reich meiner Sehnsucht. Nie würde das Reich meiner Sehnsucht mich verlassen – es würde leben vor meinem inneren Auge und meine Seele nähren, wie eine Wurzel.
So viele Jahre sind seitdem vergangen. Ich habe jede Freiheit verloren und meine Seele weinte um meinen gequälten Geist, der sich in der Dunkelheit schund. Laut rief sie die nährende Wurzel zu Hilfe und die mächtige Steppe erhob sich, sandte dem Geiste ihre heißen Winde und ihre brennende Sonne, rief den Duft des Wermuts in ihm wach. Schwankend erhob sich der Geist, um den Gruß zu erwidern, erinnerte sich, dass er selbst es ist, der sich die Trennlinien seiner Möglichkeiten malt und ausradiert. Die Seele trank die Lebensgeister der Grenzenlosen und ist wiedererwacht, weise und geflutet von der Erinnerung meiner fernen Heimat.

Nirgendwo auf der Erde ist der Mensch so frei und so verloren, wie im Reich meiner Sehnsucht. Um die Steppe zu lieben, muss man ein Steppenkind sein, lieben lernen kann man sie nicht. Oder doch? Ich weiß es nicht. Ich bin die Steppenblume.