Freja
beschloss, das Kaminzimmer für das Essen umzufunktionieren; der große,
kurzbeinige Couchtisch wurde von Büchern und Malstiften befreit und mit Tischdecken,
Kerzen und wundersam bestickten Stoffservietten geschmückt. Der dampfende
Gemüseeintopf verbreitete seinen einladenden Duft über die gesamte Stube.
Behaglichkeit
hielt Einkehr, als die Kinder sich auf Kissen und Decken um den niedrigen Tisch
herum versammelten. Gunda war noch immer aufgeregt und machte sich laut
Gedanken über die Möglichkeiten der Monteure bei der Reparatur der
Straßenlaternen.
„Werden sie
auch nicht runterfallen? Was, wenn die Säulen der Laternen genauso brechen wie
die Kabel, weil sie gefroren sind?“,- fragte sie Freja, ihren Teller
entgegennehmend.
„Aber
Gunda, im letzten Winter sind doch auch ein paar Maste bei Sturm umgefallen,
erinnerst du dich? Und dann kamen die Arbeiter von der Stadt und haben sie
repariert; niemand ist runtergefallen. Sie wissen, wie sowas geht“,- suchte Elmar
sie zu beruhigen, während er, nach Zustimmung haschend, heimlich zu Freja
blickte.
„Beruhigt
euch Kinder! Die Monteure haben eine Ausbildung und eine Ausrüstung, sie
beherrschen ihr Handwerk. Aber morgen ist Samstag, sie werden also nicht vor
Montag früh hier sein. Macht euch keine Sorgen. Wir haben zu essen und wir
haben genug Brennholz für den ganzen Winter. Wir übernachten einfach hier! Wir
klappen das Sofa auf und ihr holt eure Schlafsäcke hierher. Wir zünden mehr
Kerzen an und es wird wie beim Zelten am Lagerfeuer sein, nur, dass wir im Haus
zelten.“.- Großmutter reichte Elmar das Brott und machte es sich ebenfalls auf
den Decken gemütlich.
„Wisst ihr,
als ich klein war, hatten wir abends manchmal kein Licht. Das wurde abgestellt;
dann saßen wir auch bei Kerzen am Küchenfeuer und haben uns vom Tage erzählt,
was es so Spannendes gegeben hat. Was habt ihr heute Schönes gemacht, bevor der
Sturm kam?“.
Gunda
blickte ungläubig zu Freja.
„Kein Licht
am Abend? Wie habt ihr dann die Nachrichten geschaut? Oder wie habt ihr Ole
Lukaeje geschaut?“.
„Ole
Lukaeje haben wir damals nicht geschaut, mein Schatz; wir haben über ihn
gelesen! Manchmal, wenn wir besonders brav waren, erzählte uns meine Großmutter
Geschichten, von Göttern und wie die Welt wurde; sie kannte viele davon.“
„Was für
Geschichten hat dir deine Großmutter erzählt?“,- wollte Elmar sogleich wissen.
„Wie hieß
deine Großmutter?“,- fragte Gunda.
„Meine
Großmutter hieß Vilde. Als ich so klein war, wie ihr jetzt, hat sie abends das
Essen zubereitet und ich habe ihr geholfen. Sie erzählte mir dabei die
Geschichten der alten Wikinger; sie liebte diese Sagen.“.
„Was war
deine Lieblingsgeschichte?“
„Ja, erzähl
uns deine Lieblingsgeschichte!“
„Einverstanden.
Da es wohl etwas länger dauern wird, eher das Licht repariert wird, vertreiben
wir uns die Abende mit guten Geschichten. Ich mache den Anfang und ihr könnt in
den folgenden Tagen weitermachen, mit euren Geschichten. An eine Sage aus den
Kindertagen kann ich mich noch sehr gut erinnern. Es war eine meiner Lieblingsgeschichten,
als ich klein war. Sie ist schaurig und heldenhaft – das muss sie auch sein,
schließlich handelt sie von Göttern.
„Es war zu
einer Zeit, da die Welt noch so jung war, dass sie alles, was war, zum ersten
Mal erlebte. Sie formte sich unter dem Einfluss der Wanen und der Asen, sie
gewann an Kontur und nahm ihre gewohnte Form an. Nach dem die Welt aus den
Überresten Ymirs wurde, ward sie jeden Tag ein wenig mehr. Die verträumte Saga
verfasste viele Ferse und Zeilen über diese Zeit, die alle nachfolgenden Völker
aufbewahrt und weitererzählt haben. Darüber, wie der Regen kam, wie die Sterne
und die Flüsse wurden; was der Donner war und wen der Regen beweinte. Die
Menschen fürchteten ihre Götter und suchten sie durch Opfergaben und Rituale sie
für ihre Belange milde zu stimmen und deren Gnade zu erlangen. Doch ihre Götter
waren zuweilen sehr blutgierig und kannten keine Gnade. Denn auch für sie war
die Welt neu; auch sie erlebten alles zum ersten Mal und waren überwältigt von
ihren Gefühlen und ihrer Schöpfung. So wenig sich die alten Götter ihrer
Schöpferkraft bewusst waren, so sehr verdrängten sie ihr eigenes Schicksal,
welches ihnen im Ragnarök den eigenen Sündenfall und Untergang prophezeite.
Sie formten
die Welt mit ihren Gedanken, Worten und Taten; sie formten sie, ohne jeden
Plan, verloren im Sog ihres täglichen Treibens.
Eines Tages
geschah es, dass der Himmel sich verdunkelte, die Winde wehten und die Erde
erzitterte; ein Erbeben ereignete sich, das erste in der Geschichte der Zeit.
Es richtete großes Leid an; die Menschen waren panisch, sie fragten sich, was
sie falsch gemacht hatten, dass ihnen dieses große Leid zuteilwurde? Wie so oft,
blieben die Götter auch diesmal lange Zeit stumm und gaben den Flehenden keine
Antwort. Irgendwann aber hatte die Saga Mitgefühl mit den vielen Leidenden und
Betenden und ließ den Menschen eine Legende darnieder. Die Legende vermochte
nicht, das Leid zu lindern; sie war nur eine schwache Erklärung, mit der sich
die Erdensöhne bescheiden mussten.
Der Zorn
der Götter galt nicht der Menschheit; er galt dem listigen Loki, der das Leben
in Asgard und Midgard hinterlistig zu lenken wusste. Er leitete den Anfang vom
Ende ein: Es war der Beginn des Ragnarök, mit dessen Erfüllung sich auch die
Götter ihrem Schicksal ergeben müssen würden.
Das Unheil
fand seinen Anfang da der schöne und herzliche Balder, Friggas und Odins Sohn, unter
allen Asen und auch unter den Wanen sehr beliebt ward. Er befahl über das
Licht, die Gerechtigkeit und die Sonne und tat es derart zur Freude aller, dass
er gleichermaßen in Asgard, Midgard und Wanaheim verehrt wurde. Eines Nachts,
da hatte Frigga einen bösen Traum: Balder ward ihr erschienen, der inmitten
tanzender Asen leblos zu Boden fiel. Von diesem Traum zutiefst beunruhigt und betrübt,
erzählte Frigga ihrem Gemahl Odin von ihrer Vision. Auch Odin war von Friggas
Traum sehr verunsichert; er ließ die düstere Seherin Hel, die Hüterin und
Gebieterin der Unterwelt, befragen, ob sie etwas über einen bevorstehenden Tod
Balders wisse. Hel sagte, Balder werde in ihrem Reiche bereits erwartet. Sein
blinder Bruder Hödur werde ihn töten; so sei der Wille des Ragnarök.
Frigga war
eine stolze Göttin; unter keinen Umständen war sie bereit, sich dem Schicksal
zu ergeben. Und so ließ sie alle Geschöpfe am Himmel und auf der Erde einen
heiligen Eid schwören, dass sie nie, auch nicht in Gedanken, Balder etwas
anzutun vermögen. Und alle Geschöpfe und Götter taten, wie ihnen geheißen, denn
Balder ward unter allen Lebenden sehr beliebt.
Auch der arglistige
Loki nahm am Rate der Götter teil und nahm die Gestalt eines arglosen Bettlers
an. In dieser gefahrlosen Verkleidung gelang es ihm, der liebenden Frigga ihr
Geheimnis zu entlocken: Sie hatte alle den heiligen Eid schwören lassen, alle,
bis auf einen. Auf der Eiche vor Walhallas Tor wuchs der Mistelstrauch, den
Frigga nicht hat schwören lassen, weil er ihr zu schwach und zu unbedeutend
erschien. Doch diese Sorglosigkeit sollte ihren Plänen zur Schwäche gereichen.
Der
ruhelose Loki machte sich auf und schnitzte aus dem Mistelstrauch einen Pfeil.
Danach begab er sich in den Kreis der Asen, die sich inzwischen ein lustig
Spiel und Zeitvertreib daraus machten, Geschosse nach Balder zu werfen, da
jedes einzelne sein Ziel verfehlte. Allein der blinde Hödur, stand abseits des
bunten Treibens und vertrieb sich die Zeit, in dem er an Blumen roch.
„Wie soll
ich mitspielen, da ich doch blind bin?“,- entgegnete er auf Lokis Nachfrage und
wandte sich ab.
„Spanne du
den Bogen; hier ist ein Pfeil. Ich kann für dich zielen“. Der blinde Hödur tat,
wie ihm geheißen. Er spannte den Bogen mit Lokis Pfeil und ließ seine Hand vom
Verräter führen. Der liebliche Balder fiel leblos zu Boden.
Großes Leid
brach unter den Göttern aus. Doch schon bald schlug alles Entsetzen in Wut um
und die Götter fingen an, nach den Schuldigen für Balders Tod zu suchen.
Odin gelang
es, den Zorn der Götter von Hödur abzuwenden, da er doch nur das dem Balder
vorbestimmtes Schicksal erfüllte.
Trauer
breitete sich in Asgard und in Midgard aus; Götter, Menschen, Tiere und
Pflanzen betrauerten ihren geliebten und verehrten Sonnengott. Nannas Herz
brach vor Gramm und Verzweiflung, als ihr geliebter Ehemann auf seinem Sterbebett
zur letzten Reise gebettet wurde. So verzweifelt und untröstlich schrie sie und
schlug um sich, dass die Götter sie mit auf Balders Schiff und nebst seinem
Scheiterhaufen dar niederlegten. Die Riesen schoben das Schiff in die See. Der
Fahrtwind nahm auf den Wellen zu und die Flamme griff um sich. So ging Balder
samt seinem treuen Weib ein letztes Mal über die See.
Tief und voller
Verzweiflung trauerte Frigga um ihren Sohn. Untröstlich in ihrer Trauer suchte
sie nach einer Möglichkeit, Balder aus dem Reiche der Hel zu befreien. Auf
Friggas Flehen hin entschloss sich der Götterbote Hermod um die Befreiung
seines Bruders bei der grauen Hel zu bitten. Odin gab Hermod seinen Ross
Sleipnir, der den Weg ins Reich der Toten kannte.
Lange und
unermüdlich ritt Hermod durch alle Lande Asgards und erreichte zur neunten
Nacht die Brücke, die zum Reiche der Hel herabführte. Hermod stieg herab und
sah sich im Totenreich um; alsbald sah er seinen Bruder Balder, der
schlaftrunken und bleich in den liebenden Armen seiner treuen Nanna lag.
Wie sehr
Hermod auch flehte und bettelte, die düstere Hel blieb unerbittlich; unter
keinen Umständen wollte sie Balder gehen lassen.
„Wer einmal
gestorben ist, bleibt meinem Reiche verfallen“,- wiederholte sie mit
schwermütiger Gleichgültigkeit. „Auch Balder gehört von jetzt an mir!“.
Hermod
jedoch ließ sich nicht abweisen und ersuchte immer herzerweichendere Bilder, um
der Hel dunkles Herz zu erweichen. Und so kam es, dass sie schließlich
einwilligte.
„Ich will
der Bitte der Göttin nachgeben und Balder die Freiheit wiedergeben. Wenn alle
Geschöpfe der Welt, Lebende wie Tote, Menschen wie Götter, Tiere wie Pflanzen
Balder einen Tag lang beweinen, so will ich ihn freilassen. Wenn aber auch nur
ein einziges Geschöpf ihm seine Tränen verweigert, dann bleibt Balder für alle
Zeiten in meinem Reich!“. So sprach die düstere Hel und wandte sich von Hermod
ab.
Hermod aber
eilte nach Asgard mit der frohen Botschaft der Hoffnung, um den Willen der Hel
kund zu tun. Voller Zuversicht sandte Frigga Boten in alle Teile der Welt , um alle
Geschöpfe, Tote wie Lebende, Menschen wie Götter, Pflanzen wie Tiere für
Balders Heimkehr zu gewinnen. Alle Wesen der Welt weinten um ihren gefallenen
Lichtgott. Dennoch kam Balder nicht zurück. Da glaubten die Asen, dass hier der
listige Loki sein finsteres Treiben fortsetzte. Inmitten des Entsetzens um
Balders Ermordung und der großen Hoffnung um seine Rückkehr, floh Loki nach
Riesenheim und verbarg sich dort, seine Gestalt immer wechselnd. Nach einiger
Überlegung und Weissagung ersannen die Asen, dass es der durchtriebene Loki
selbst war, der die Tränen um Balder verweigerte. Hastig und gnadenlos waren
Odin und Frigga auf der Suche nach Loki. Lange Zeit verbarg er sich in der
Einsamkeit Riesenheims; eines Tages aber wusste er, dass Odin ihm dicht auf den
Fersen ist. Da floh er erneut, verwandelte sich in einen Lachs und verbarg sich
unter einem Wasserfall. Der friedliebende Njörd, der großes Mitgefühl mit
Friggas Kummer empfand, trug es seinen Wassergeistern auf, Odin die Wahrheit
über Lokis Verbleib zu sagen. Da nahmen Odin und seine Helfer ein Netz und
fingen Loki damit.
Die Rache
der Asen war so grausam wie Lokis Verbrechen. Sie führten ihn auf eine Insel im
Reiche der Hel und schmiedeten ihn dort an einem Felsen fest, so, dass er kein
Glied mehr zu rühren vermochte. Über Lokis Haupt befestigten die Rächer eine
Natter, die ohne Unterlass Gift in das Antlitz des Verdammten träufelt. Lokis
treue Gattin Sigyn lindert sein Los nach Kräften – Tag und Nacht sitzt sie
neben ihm und fängt das Natterngift in einer Schale auf. Doch wenn die Schale
einmal voll ist, muss sie aufstehen, um sie auszuleeren. Dann spritzt die
Natter ihr Gift in Lokis Gesicht und er schindet und windet sich vor brennendem
Schmerz, dass ganz Midgard erzittert. Dann bebt die Erde und erinnert die
Götter daran, dass auch sie ihrem Schicksal unterliegen und dass Ragnarök
unvermeidlich ist und immer näher rückt.“[1]-
Gespannt
und weltvergessen lauschten die Kinder ihrer Großmutter. Der Sturm legte sich
inzwischen und die dunklen Straßen waren erleuchtet vom Licht des Mondes. Das
Rauschen des Kaminfeuers und der Duft des frisch aufgekochten Kakao lag in der
vom Kerzenschein erwärmten Luft.
„Diese
Geschichte erzählte mir einst meine Großmutter. Und sie hatte sie wiederum von
ihrer Großmutter. Wenn ihr einmal so alt seid, wie ich, dann werdet auch ihr
diese Geschichte euren Enkelkindern erzählen.“ …
Zugriff am
14.11.2015. Die Geschichte wurde geringfügig abgeändert.