Samstag, 5. Dezember 2015

Im Schatten des Feuers #2



Freja beschloss, das Kaminzimmer für das Essen umzufunktionieren; der große, kurzbeinige Couchtisch wurde von Büchern und Malstiften befreit und mit Tischdecken, Kerzen und wundersam bestickten Stoffservietten geschmückt. Der dampfende Gemüseeintopf verbreitete seinen einladenden Duft über die gesamte Stube.
Behaglichkeit hielt Einkehr, als die Kinder sich auf Kissen und Decken um den niedrigen Tisch herum versammelten. Gunda war noch immer aufgeregt und machte sich laut Gedanken über die Möglichkeiten der Monteure bei der Reparatur der Straßenlaternen.
„Werden sie auch nicht runterfallen? Was, wenn die Säulen der Laternen genauso brechen wie die Kabel, weil sie gefroren sind?“,- fragte sie Freja, ihren Teller entgegennehmend.
„Aber Gunda, im letzten Winter sind doch auch ein paar Maste bei Sturm umgefallen, erinnerst du dich? Und dann kamen die Arbeiter von der Stadt und haben sie repariert; niemand ist runtergefallen. Sie wissen, wie sowas geht“,- suchte Elmar sie zu beruhigen, während er, nach Zustimmung haschend, heimlich zu Freja blickte.
„Beruhigt euch Kinder! Die Monteure haben eine Ausbildung und eine Ausrüstung, sie beherrschen ihr Handwerk. Aber morgen ist Samstag, sie werden also nicht vor Montag früh hier sein. Macht euch keine Sorgen. Wir haben zu essen und wir haben genug Brennholz für den ganzen Winter. Wir übernachten einfach hier! Wir klappen das Sofa auf und ihr holt eure Schlafsäcke hierher. Wir zünden mehr Kerzen an und es wird wie beim Zelten am Lagerfeuer sein, nur, dass wir im Haus zelten.“.- Großmutter reichte Elmar das Brott und machte es sich ebenfalls auf den Decken gemütlich.
„Wisst ihr, als ich klein war, hatten wir abends manchmal kein Licht. Das wurde abgestellt; dann saßen wir auch bei Kerzen am Küchenfeuer und haben uns vom Tage erzählt, was es so Spannendes gegeben hat. Was habt ihr heute Schönes gemacht, bevor der Sturm kam?“.
Gunda blickte ungläubig zu Freja.
„Kein Licht am Abend? Wie habt ihr dann die Nachrichten geschaut? Oder wie habt ihr Ole Lukaeje geschaut?“.
„Ole Lukaeje haben wir damals nicht geschaut, mein Schatz; wir haben über ihn gelesen! Manchmal, wenn wir besonders brav waren, erzählte uns meine Großmutter Geschichten, von Göttern und wie die Welt wurde; sie kannte viele davon.“
„Was für Geschichten hat dir deine Großmutter erzählt?“,- wollte Elmar sogleich wissen.
„Wie hieß deine Großmutter?“,- fragte Gunda.
„Meine Großmutter hieß Vilde. Als ich so klein war, wie ihr jetzt, hat sie abends das Essen zubereitet und ich habe ihr geholfen. Sie erzählte mir dabei die Geschichten der alten Wikinger; sie liebte diese Sagen.“.
„Was war deine Lieblingsgeschichte?“
„Ja, erzähl uns deine Lieblingsgeschichte!“
„Einverstanden. Da es wohl etwas länger dauern wird, eher das Licht repariert wird, vertreiben wir uns die Abende mit guten Geschichten. Ich mache den Anfang und ihr könnt in den folgenden Tagen weitermachen, mit euren Geschichten. An eine Sage aus den Kindertagen kann ich mich noch sehr gut erinnern. Es war eine meiner Lieblingsgeschichten, als ich klein war. Sie ist schaurig und heldenhaft – das muss sie auch sein, schließlich handelt sie von Göttern.
„Es war zu einer Zeit, da die Welt noch so jung war, dass sie alles, was war, zum ersten Mal erlebte. Sie formte sich unter dem Einfluss der Wanen und der Asen, sie gewann an Kontur und nahm ihre gewohnte Form an. Nach dem die Welt aus den Überresten Ymirs wurde, ward sie jeden Tag ein wenig mehr. Die verträumte Saga verfasste viele Ferse und Zeilen über diese Zeit, die alle nachfolgenden Völker aufbewahrt und weitererzählt haben. Darüber, wie der Regen kam, wie die Sterne und die Flüsse wurden; was der Donner war und wen der Regen beweinte. Die Menschen fürchteten ihre Götter und suchten sie durch Opfergaben und Rituale sie für ihre Belange milde zu stimmen und deren Gnade zu erlangen. Doch ihre Götter waren zuweilen sehr blutgierig und kannten keine Gnade. Denn auch für sie war die Welt neu; auch sie erlebten alles zum ersten Mal und waren überwältigt von ihren Gefühlen und ihrer Schöpfung. So wenig sich die alten Götter ihrer Schöpferkraft bewusst waren, so sehr verdrängten sie ihr eigenes Schicksal, welches ihnen im Ragnarök den eigenen Sündenfall und Untergang prophezeite.
Sie formten die Welt mit ihren Gedanken, Worten und Taten; sie formten sie, ohne jeden Plan, verloren im Sog ihres täglichen Treibens.
Eines Tages geschah es, dass der Himmel sich verdunkelte, die Winde wehten und die Erde erzitterte; ein Erbeben ereignete sich, das erste in der Geschichte der Zeit. Es richtete großes Leid an; die Menschen waren panisch, sie fragten sich, was sie falsch gemacht hatten, dass ihnen dieses große Leid zuteilwurde? Wie so oft, blieben die Götter auch diesmal lange Zeit stumm und gaben den Flehenden keine Antwort. Irgendwann aber hatte die Saga Mitgefühl mit den vielen Leidenden und Betenden und ließ den Menschen eine Legende darnieder. Die Legende vermochte nicht, das Leid zu lindern; sie war nur eine schwache Erklärung, mit der sich die Erdensöhne bescheiden mussten.
Der Zorn der Götter galt nicht der Menschheit; er galt dem listigen Loki, der das Leben in Asgard und Midgard hinterlistig zu lenken wusste. Er leitete den Anfang vom Ende ein: Es war der Beginn des Ragnarök, mit dessen Erfüllung sich auch die Götter ihrem Schicksal ergeben müssen würden.  
Das Unheil fand seinen Anfang da der schöne und herzliche Balder, Friggas und Odins Sohn, unter allen Asen und auch unter den Wanen sehr beliebt ward. Er befahl über das Licht, die Gerechtigkeit und die Sonne und tat es derart zur Freude aller, dass er gleichermaßen in Asgard, Midgard und Wanaheim verehrt wurde. Eines Nachts, da hatte Frigga einen bösen Traum: Balder ward ihr erschienen, der inmitten tanzender Asen leblos zu Boden fiel. Von diesem Traum zutiefst beunruhigt und betrübt, erzählte Frigga ihrem Gemahl Odin von ihrer Vision. Auch Odin war von Friggas Traum sehr verunsichert; er ließ die düstere Seherin Hel, die Hüterin und Gebieterin der Unterwelt, befragen, ob sie etwas über einen bevorstehenden Tod Balders wisse. Hel sagte, Balder werde in ihrem Reiche bereits erwartet. Sein blinder Bruder Hödur werde ihn töten; so sei der Wille des Ragnarök.
Frigga war eine stolze Göttin; unter keinen Umständen war sie bereit, sich dem Schicksal zu ergeben. Und so ließ sie alle Geschöpfe am Himmel und auf der Erde einen heiligen Eid schwören, dass sie nie, auch nicht in Gedanken, Balder etwas anzutun vermögen. Und alle Geschöpfe und Götter taten, wie ihnen geheißen, denn Balder ward unter allen Lebenden sehr beliebt.
Auch der arglistige Loki nahm am Rate der Götter teil und nahm die Gestalt eines arglosen Bettlers an. In dieser gefahrlosen Verkleidung gelang es ihm, der liebenden Frigga ihr Geheimnis zu entlocken: Sie hatte alle den heiligen Eid schwören lassen, alle, bis auf einen. Auf der Eiche vor Walhallas Tor wuchs der Mistelstrauch, den Frigga nicht hat schwören lassen, weil er ihr zu schwach und zu unbedeutend erschien. Doch diese Sorglosigkeit sollte ihren Plänen zur Schwäche gereichen.
Der ruhelose Loki machte sich auf und schnitzte aus dem Mistelstrauch einen Pfeil. Danach begab er sich in den Kreis der Asen, die sich inzwischen ein lustig Spiel und Zeitvertreib daraus machten, Geschosse nach Balder zu werfen, da jedes einzelne sein Ziel verfehlte. Allein der blinde Hödur, stand abseits des bunten Treibens und vertrieb sich die Zeit, in dem er an Blumen roch.
„Wie soll ich mitspielen, da ich doch blind bin?“,- entgegnete er auf Lokis Nachfrage und wandte sich ab.
„Spanne du den Bogen; hier ist ein Pfeil. Ich kann für dich zielen“. Der blinde Hödur tat, wie ihm geheißen. Er spannte den Bogen mit Lokis Pfeil und ließ seine Hand vom Verräter führen. Der liebliche Balder fiel leblos zu Boden.
Großes Leid brach unter den Göttern aus. Doch schon bald schlug alles Entsetzen in Wut um und die Götter fingen an, nach den Schuldigen für Balders Tod zu suchen.   
Odin gelang es, den Zorn der Götter von Hödur abzuwenden, da er doch nur das dem Balder vorbestimmtes Schicksal erfüllte.
Trauer breitete sich in Asgard und in Midgard aus; Götter, Menschen, Tiere und Pflanzen betrauerten ihren geliebten und verehrten Sonnengott. Nannas Herz brach vor Gramm und Verzweiflung, als ihr geliebter Ehemann auf seinem Sterbebett zur letzten Reise gebettet wurde. So verzweifelt und untröstlich schrie sie und schlug um sich, dass die Götter sie mit auf Balders Schiff und nebst seinem Scheiterhaufen dar niederlegten. Die Riesen schoben das Schiff in die See. Der Fahrtwind nahm auf den Wellen zu und die Flamme griff um sich. So ging Balder samt seinem treuen Weib ein letztes Mal über die See.
Tief und voller Verzweiflung trauerte Frigga um ihren Sohn. Untröstlich in ihrer Trauer suchte sie nach einer Möglichkeit, Balder aus dem Reiche der Hel zu befreien. Auf Friggas Flehen hin entschloss sich der Götterbote Hermod um die Befreiung seines Bruders bei der grauen Hel zu bitten. Odin gab Hermod seinen Ross Sleipnir, der den Weg ins Reich der Toten kannte.
Lange und unermüdlich ritt Hermod durch alle Lande Asgards und erreichte zur neunten Nacht die Brücke, die zum Reiche der Hel herabführte. Hermod stieg herab und sah sich im Totenreich um; alsbald sah er seinen Bruder Balder, der schlaftrunken und bleich in den liebenden Armen seiner treuen Nanna lag.
Wie sehr Hermod auch flehte und bettelte, die düstere Hel blieb unerbittlich; unter keinen Umständen wollte sie Balder gehen lassen.
„Wer einmal gestorben ist, bleibt meinem Reiche verfallen“,- wiederholte sie mit schwermütiger Gleichgültigkeit. „Auch Balder gehört von jetzt an mir!“.
Hermod jedoch ließ sich nicht abweisen und ersuchte immer herzerweichendere Bilder, um der Hel dunkles Herz zu erweichen. Und so kam es, dass sie schließlich einwilligte.
„Ich will der Bitte der Göttin nachgeben und Balder die Freiheit wiedergeben. Wenn alle Geschöpfe der Welt, Lebende wie Tote, Menschen wie Götter, Tiere wie Pflanzen Balder einen Tag lang beweinen, so will ich ihn freilassen. Wenn aber auch nur ein einziges Geschöpf ihm seine Tränen verweigert, dann bleibt Balder für alle Zeiten in meinem Reich!“. So sprach die düstere Hel und wandte sich von Hermod ab.
Hermod aber eilte nach Asgard mit der frohen Botschaft der Hoffnung, um den Willen der Hel kund zu tun. Voller Zuversicht sandte Frigga Boten in alle Teile der Welt , um alle Geschöpfe, Tote wie Lebende, Menschen wie Götter, Pflanzen wie Tiere für Balders Heimkehr zu gewinnen. Alle Wesen der Welt weinten um ihren gefallenen Lichtgott. Dennoch kam Balder nicht zurück. Da glaubten die Asen, dass hier der listige Loki sein finsteres Treiben fortsetzte. Inmitten des Entsetzens um Balders Ermordung und der großen Hoffnung um seine Rückkehr, floh Loki nach Riesenheim und verbarg sich dort, seine Gestalt immer wechselnd. Nach einiger Überlegung und Weissagung ersannen die Asen, dass es der durchtriebene Loki selbst war, der die Tränen um Balder verweigerte. Hastig und gnadenlos waren Odin und Frigga auf der Suche nach Loki. Lange Zeit verbarg er sich in der Einsamkeit Riesenheims; eines Tages aber wusste er, dass Odin ihm dicht auf den Fersen ist. Da floh er erneut, verwandelte sich in einen Lachs und verbarg sich unter einem Wasserfall. Der friedliebende Njörd, der großes Mitgefühl mit Friggas Kummer empfand, trug es seinen Wassergeistern auf, Odin die Wahrheit über Lokis Verbleib zu sagen. Da nahmen Odin und seine Helfer ein Netz und fingen Loki damit.
Die Rache der Asen war so grausam wie Lokis Verbrechen. Sie führten ihn auf eine Insel im Reiche der Hel und schmiedeten ihn dort an einem Felsen fest, so, dass er kein Glied mehr zu rühren vermochte. Über Lokis Haupt befestigten die Rächer eine Natter, die ohne Unterlass Gift in das Antlitz des Verdammten träufelt. Lokis treue Gattin Sigyn lindert sein Los nach Kräften – Tag und Nacht sitzt sie neben ihm und fängt das Natterngift in einer Schale auf. Doch wenn die Schale einmal voll ist, muss sie aufstehen, um sie auszuleeren. Dann spritzt die Natter ihr Gift in Lokis Gesicht und er schindet und windet sich vor brennendem Schmerz, dass ganz Midgard erzittert. Dann bebt die Erde und erinnert die Götter daran, dass auch sie ihrem Schicksal unterliegen und dass Ragnarök unvermeidlich ist und immer näher rückt.“[1]-

Gespannt und weltvergessen lauschten die Kinder ihrer Großmutter. Der Sturm legte sich inzwischen und die dunklen Straßen waren erleuchtet vom Licht des Mondes. Das Rauschen des Kaminfeuers und der Duft des frisch aufgekochten Kakao lag in der vom Kerzenschein erwärmten Luft.

„Diese Geschichte erzählte mir einst meine Großmutter. Und sie hatte sie wiederum von ihrer Großmutter. Wenn ihr einmal so alt seid, wie ich, dann werdet auch ihr diese Geschichte euren Enkelkindern erzählen.“ …

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