Donnerstag, 12. November 2015

Im Schatten des Feuers #1



Die Sonne ließ sich in Troms seit Tagen nicht mehr blicken. Vor dem Fenster des kleinen Häuschens erstreckte sich der tiefste Winter. Auch alle benachbarten Häuschen lagen unter der weichen, weißen Schneedecke. Der dichte und geheimnisvolle Wald, der sich um Prestvannet herum erstreckte, schwand hier und da, um der winzigen Siedlung seine beschauliche Lichtung anzubieten. Die Lichtung war nur eine Insel inmitten der Birken, die ihr grünes Gewand unlängst gegen die winterlichen Brautkleider eingetauscht haben.
Der See war stellenweise zugefroren; dort, wo die Sümpfe gnädig blieben, erstreckten sich Birken, die ihren Lebensraum großzügig mit Eichen, Kastanien und Eschen teilten. Alles trug weiß – die Böden, die letzten tapferen Blättchen, die es dann und wann geschafft haben, sich am Gestrüpp zu halten; die Stämme und die Äste, die sich zu weiß gekrönten Kronen vereinten.
Inmitten dieses Wintermärchens stand das Haus der Nilssons am Rande einer Landstraße. Auf der anderen Seite der Straße nahm der Wald sein Gebiet wieder in Besitz; erst zögerlich, mit wenigen kleinen Birken und Gestrüpp; dann mutiger, mit kräftigen und dicht bewachsenen Bäumen und schließlich entschlossen und undurchdringlich, bis er kurz vor dem Ufer des Prestvannet dem moorigen Sumpf weichen musste.
Die Laternenmaste entlang der Landstraße glichen einer durch silberne Fäden miteinander verknüpften Königsgarde, die inmitten royaler Dunkelheit eine Lichtparade abhielten.
Das Haus war weiß und mehrstöckig. Den zweiten Stock und das Dachgeschoss verzierten jeweils ein größerer und ein kleinerer hölzerner Austritt mit schlichten Querbalken. Das ganze Haus bestand aus diesen schlichten Sprossen und war umgeben vom kleinen, verwilderten Gärtchen zur seiner Rechten und einer Wiese zur seiner Linken. So stand es, stolz und majestätisch auf einem kleinen Hügel, der es über alle anderen Häuser in der Gegend gerade so viel erhöhte, dass acht Stufen und eine leichte Steigung des Pflasterweges vonnöten waren, um das von einer altmodischen und einsamen Gaslaterne beleuchtete Domizil zu erreichen.      
Allein die Uhr im Wohnzimmer der Nilssons bestimmte den Tagesablauf von Elmar und Gunda. Da die Geschwister mit ihren sieben und acht Jahren noch viel zu jung waren, um darauf zu achten, oblag es der Güte der Großmutter Freja, der immerwährenden Nacht des norwegischen Winters den Schleier des von unserer Lebensart geforderten Rhythmus aufzuerlegen.
In der Zeit der Weihnachtsferien war keine Strenge gefragt; märchenhafte Romantik lag in der Luft und knisterte im Kaminfeuer. Der Samstag neigte sich dem Ende zu und bescherte dem aus der Zeit gerissenen Zuschauer in der knisternden Kälte der vom Raureif belegten Flora das wundersame Schauspiel des geheimnisvollen nächtlichen Leuchtens der nordischen Luft.
Elmar und Gunda saßen im weichen Licht des Kaminfeuers. Das Wenige, das sie für das Blättern ihres Kinderbuches brauchten, spendete ihnen die kleine Funzel über der großen Chaiselongue, in der sie beide Platz fanden. Das Knistern des Feuers im Kamin vertonte sein magisches Schattenspiel an den Sprießeln der hölzernen Decke. Es erzählte sein eigenes Märchen des Werdens und Vergehens; zu lang und zu verzagt für kindliche Gemüter und daher nicht vernommen.
Die Uhr schlug sieben; der kleine Kuckuck schrie die Zeit in die Welt hinaus und zog sich zurück. Der Wind nahm die Arbeit auf, fegte den Raufrost von den Ästen und wirbelte allen Schnee auf, der nicht unter einer kleinen Kristallkruste seine vorerst letzte Ruhe fand.
Noch bevor der Kuckuck den Fortgang der Ewigkeit zur vollen Stunde ein weiteres Mal hinausschreien konnte, erwuchs aus dem kleinen Schneewirbel im Garten ein wahrhafter Wirbelsturm. Er schüttelte die Bäume und durchbrach die dünne Kruste des am Boden liegenden Schnees; nahm ihn mit und verwandelte die Dunkelheit in einen weißen Nebel, der hier und da durch die weißen Flecken der Straßenbeleuchtung aufgehellt wurde. Auch die Geräuschkulisse veränderte sich und gesellte dem friedlichen Summen des Kaminfeuers das wilde und unbeherrschte Heulen des heimatlosen Windes. Er erzählte andere Geschichte, von Sehnsucht und Verlust und er tat es laut und unbeherrscht.
Ängstlich schmiegten sich Elmar und Gunda aneinander und flehten um Geborgenheit vor der düsteren Sage des Sturmes. Großmutter Freja zog die dünnen Gardinen zu und forderte die Glühlampe auf, die Geister des Sturmes zu vertreiben. Das ging für einige Minuten gut; dann holte der Sturm auf. Er kämpfte mit aller Kraft gegen die Fensterscheiben, an die er mit Schneekristallen und Strauchästchen anklopfte und gegen das Licht, das er immer mehr im weißen Nebel des Schnees zu ertränken suchte. Plötzlich hörte man ein entsetzliches Knacken; eine der Straßenleuchten, vom Sturm verbogen, gab nach und zerbrach, wie ein Streichholz. Die silbernen Fäden der Kabel zischten und zerbrachen wie gläserne Stäbchen. Graue Finsternis zerrann über Soltungvegen und allein das schüchterne, aber beständige Kaminfeuer erzählte seine leise Geschichte und beschenkte hingebungsvoll mit Licht und Wärme.
Gunda und Elmar waren voller Furcht; es war Sonnabend und mit einem Rettungsdienst für die Stromleitungen war vor Montag nicht zu rechnen, zumal sich das Telefon zusammen mit dem Licht aus der Reichweite des Gewohnten entfernte.
Der Sturm wütete in der Dunkelheit und sang in aller Stärke das Lied der Zerstörung. Freja eilte in den Vorraum und brachte so viel Brennholz mit, wie sie tragen konnte, um das Chaminée zu ermutigen, sein Schattenspiel wieder aufzunehmen. Von dem Augenblick an, als die Dunkelheit die Straßen eroberte, vertonte der tobende Schneesturm das Spiel an der Holzdecke.
Gunda weinte und wollte sich nicht trösten lassen; Elmar blickte hilfesuchend zu Freja hoch. Was sollte sie machen? Das Abendessen ward fertig; ein Essen bei Kerzenschein schien ein guter Anfang, um die Kinder mit der Nacht zu versöhnen. ...

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