Zum wiederholten Mal in seinem Leben hatte Ilja
das Gefühl, verloren zu haben. Verluste – mit diesem Thema kannte er sich aus;
aber der gegenwärtige war ihm der schmerzhafteste. Tief saß der Schmerz seines
Schuldempfindens, denn wie immer, wenn er einen Verlust erlitt, fühlte er sich
schuldig. Das Schuldempfinden war sein alter Begleiter, ein Freund fast, den er
noch lange vor der Liebe kennenlernte, und der jedes Mal zurückblieb und Ilja
Gesellschaft leistete, wenn eine Liebe dem Verlust zum Opfer fiel.
Im Grunde war es nichts Unerwartetes, denn Ilja
ging stets davon aus, dass seine Liebe zum Scheitern verurteilt ist. Nichts
anderes war vorgesehen oder möglich in der Welt, die er sein Eigen nannte. Nur
fand Ilja für gewöhnlich einen nostalgischen Zauber darin, sich der Grübelei um
seine Einsamkeit hinzugeben, wobei ihm ein leise wimmerndes Schuldgefühl
zuflüsterte, dass er im Unrecht sei, während er sich andererseits genüsslich
der Vorstellung hingab, eine einsame Seele inmitten der weiten Welt zu sein.
Diesmal war etwas anders. Ilja hörte nur das Schuldgefühl, es gab keine
nostalgisch-masochistische Gegenstimme in ihm. Ilja war eine von der Schuld
geplagte Seele inmitten einer sich der Nacht hingebenden Welt.
Was geschah mit der Nostalgie? Seit so vielen
Jahren war sie seine Begleiterin, wenn er jedes in ihm aufkommende zärtliche
Gefühl aus Angst vor etwas, was er nicht beim Namen nennen konnte, dem
schicksalhaftem Untergang weihte, was ihn sowohl von der Notwendigkeit, zu
fühlen, als auch von der, mit zu fühlen, befreite. Doch Nachts, wenn der
sinnlose Traum ihm wiederholt den Schlaf raubte, Ilja dem Wunsch nicht
widerstehen konnte, der Welt zu entfliehen und die Flucht vor dem Küchenfenster
endete, begann Iljas stille Beichte an den Mond, der auf alles eine Antwort
wusste.
Der Mond wusste, wie viel Schuld Ilja in seiner
Brust barg und wie schwer sie ihn bei Zeiten atmen ließ. Der Mond wusste auch,
welche Sehnsucht Iljas stumpfes Schuldempfinden übertönte, dieses nagende
Verlangen nach Etwas, nach Empfindung, nach Leben. Nacht um Nacht trug Ilja dem
Mond seinen verzweifelten Monolog vor, gab sich der Trance der Einsamkeit hin,
flehte und hoffte, ein Mann zu werden, der dieses zerrende Ritual ablegen kann,
um etwas zu tun, was Ilja noch nie bewusst getan hatte – leben.
In der grenzenlosen Einsamkeit seiner vom
Mondlicht überfluteten Küche, war Ilja bereit, ein anderer Mann zu werden, als
er es bei Sonnenlicht war, wenn ihn die Unsicherheit lähmte.
Im silbernen Licht war Ilja ein weiser Mann. Er
wusste, dass es keinen Grund gibt, sich vor dem Leben zu ängstigen, nach dem es
ihn verzehrt. In diesem Licht wusste er, dass das Leben gut war und ihn
annehmen wollte. Aber in wenigen Stunden würde es Tag werden, das Licht grell
und die Welt würde sich in die Realität verfärben, die ihn wie eine unsichtbare
Mauer von dem trennt, was er eigentlich sein möchte: Der weise Mann des
Mondlichtes. Er hatte nur noch wenige Stunden, um diesen in sich einzuprägen,
ihn sich soweit einzuverleiben, dass wenigstens ein schwacher Funke seiner
Einsichten und Empfindungen den realen Ilja der Sonne durchströmen können.
Was für ein Segen es sein muss, dem Verlangen des
Herzens unbedacht nachzugeben. Dieser große, unbeschreibliche Kloß, der Anfang
und Kern seiner emotionalen Verwirrung, er würde sich auflösen, sobald er
selbstvergessen aussprechen könnte, was so herrlich in der Brust brannte. „Ich
liebe dich… Lass mich nur mit den Fingerkuppen den Rand deiner Lippen berühren…
Lass mich nur den Duft deiner Haut einatmen…“. Oh, herrlicher Mondlicht, wie
leicht kamen diese Worte über Iljas trockene Lippen, wenn du dar
niederschienst!...
Wie erschreckend allein die Erinnerung an sie im
Licht der Sonne sein wird. Im Licht des hellsten Nachtgestirns konnte er nicht
verstehen, welcher Zwang den Sonnen-Ilja an seinem Glück hinderte. Wenige
Stunden trennten Ilja von seiner Verwandlung. Die Einsicht in den Zwang würde
mit dem aufkommenden Tageslicht den Platz in Iljas Brust einnehmen, der zurzeit
die Sehnsucht und Reue eine Herberge waren.
Ilja klemmte seinen Kopf noch fester zwischen den
Knien ein. Diesmal wollte er kämpfen. Er wollte mehr aus seinen nächtlichen
Einsichten mitnehmen, als die bloße Erinnerung. „Tue es jetzt! Rufe sie an.“
Allein beim Gedanken daran, Isabells Stimme zu hören, wich seine Sehnsucht der
Angst. Was, wenn sie nicht zuhören will? Was, wenn sie ihn zurückweist? Sie
hätte Gründe dazu. Ilja selbst hat sie so oft zurückgewiesen und mit
emotionaler Kälte gestraft; konnte er erwarten, dass Isabell ihm vergibt? Sie
hatte immer gefleht, er möge lebendig werden.
Ilja selbst hat auch immer auf das Leben
gewartet. Er hat so viele Nächte damit verbracht, sich der Glut seiner
imaginären Leidenschaften hinzugeben. Susanna, die zarte Liebe seiner Jugend,
ihre Schönheit, ihre Grazie haben ein Feuer in Iljas Brust entfacht, dass er an
seinen Fantasien zu verbrennen drohte. Wie sollte er bloß dieses Feuer ins
wahre Leben mitnehmen? Woher sollte er den Mut nehmen, sich derart zu
offenbaren? Diese Fragen beschäftigten Ilja seither und er hatte darauf keine
Antworten. Er existierte, in der Erwartung, dass eines Tages etwas geschehen
würde, was ihn von dem Zwang befreite, sich überlegen fühlen zu müssen. Dieser
Zwang resultierte aus der tiefen Angst des Nicht-Gut-Genug-Seins und verlangte
eine distanzierte und kühle Haltung ab. Jede Emotion konnte eine Schwäche
verraten, deswegen waren Emotionen nur in der Einsamkeit des Mondlichtes
möglich; bei Tage und in Gesellschaft dagegen eine wohl anerzogene
Freundlichkeit, hinter der sich eine ängstliche Distanz verbarg.
Für einen kurzen Augenblick seines Lebens, vor
langer Zeit, schien es für Ilja greifbar, die Angst und den Zwang durch die
ergebene Zärtlichkeit, das Geschenk seiner Jugendliebe, zu bändigen.
In einer kleinen Diskothek am Rande Rahlstedts,
die er als Zwanzigjähriger jeden Samstag aufsuchte, um einsam inmitten der
Menschenmenge ein Mineralwasser zu trinken, sprach ihn im Sommer 1992 ein
Mädchen an. Als Ilja gerade ansetzte, um den letzten Schluck zu trinken, tippte
ihn jemand sachte am Ellenbogen an. Er drehte sich nach rechts und sah ein
großes, schlankes Mädchen; zart lächelte sie Ilja an mit grünen Zähnen im
grellen Neonlicht. „Magst du tanzen?“ Sein Herz schlug plötzlich schneller und
die Brust hob sich – war es das, war das die Befreiung? „Ja, gerne.“ Sie tanzten
ein Weilchen, sie erzählte ihm, dass sie Anita heiße und aus Rostock komme. Sie
wolle in Hamburg eine Anstellung finden und sei vor vier Wochen hier
hergezogen. „Kommst du aus Hamburg?“ „Ja, ich wohne hier in der Gegend. Wenn du
magst, kann ich dir die Stadt zeigen.“ „Das wäre schön. Hast du morgen Zeit?“
„Morgen… Nein, morgen kann ich nicht. Wie wäre es mit nächstem Sonntag?“ „Gut;
rufst du mich an?“ Anita schnappte sich eine Serviette und notierte ihre
Telefonnummer. „Ja… danke… ich rufe dich nächsten Sonntag an.“ Sie tanzten
weiter; Ilja kaufte Anita ein Getränk und brachte sie ein Stück weit nach
Hause. Es war gelogen, dass er am nächsten Tag keine Zeit hatte; es hatte ihm
nur Angst gemacht, so unkompliziert einen Menschen in sein Leben hereinzulassen.
Aber er ließ Anita herein. Zögerlich-abwartend, was bei ihr ein besonders
vertrauensvolles Gefühl erweckt hatte, gestattete es Ilja Anita, ein Teil
seines Lebens zu werden. Es war eine aufregende Zeit für Ilja. Ihm schien, als
sei er endlich der Liebe begegnet und in seinen Fantasien stellte er sich immer
vor, er würde, sobald die Liebe ihn fand, erwachen, ein richtige, glückliches
Leben beginnen, weit jenseits aller Ängste und Unsicherheiten. Die Zeit
verging, er tat und gab das, was er für Liebe hielt und nahm welche an, ohne
dass es in seiner Brust zu diesem heiß stechenden Ausbruch käme, den er
regelmäßig in seinen Fantasien erleben durfte. Ilja war verunsichert und
verwirrt, eine Liebe ohne diesen Ausbruch hatte er sich nie vorgestellt. Doch
es geschah nichts. Die Zeit verging, schon über ein Jahr, aber die zärtliche
und kindlich-schüchterne Anita entfachte in Iljas Brust kein flammendes Feuer,
nur eine Friedlichkeit, in der Ilja zu dämmern schien. Genau diese
Friedlichkeit war es, die Ilja für kurze Zeit eine Illusion der Liebe
vortäuschte. Ilja war so sehr versessen auf diesen Gefühlsausbruch, dass er
eines unüberlegten Nachts den verführerischen Augen einer anderen jungen Frau
folgte. Sie war lebendig und ausgelassen und Ilja trank sie, wie ein Vampir,
und pochte in ihrem Rhythmus, aber sie heilte ihn nicht. Das Leben war vor ihm,
glühend rief es nach ihm und er biss sich darin fest, aber er konnte es nicht
fühlen. Seine Brust blieb leer. Sein Herz schlug schnell, seine Hände
kribbelten und die Lippen brannten, aber seine Brust war leer.
Ermattet, beschämt und erstarrt kehrte er im
Morgengrauen zu Anita zurück und weinte und flehte in ihrem Schoss um
Vergebung. Er fand keine und das war schon der zweite Verlust seines jungen
Lebens, den er selbst verschuldet zu haben glaubte.
Verluste… selbstverschuldete Verluste, nicht
rückgängig zu machen und auch nicht zu vergeben. Man verliert, wenn man nicht
gut genug ist zu erhalten oder zu erlangen, – das war Iljas Wahrheit. Von allen
seinen unbedachten Verlusten war Ilja das Licht Isabells der schmerzhafteste.
Er hatte sich mit dem dumpfen Schuldgefühl seiner Kindheit abgefunden. Früh,
viel zu früh kam Ilja zu der schweren Last, sich für die Einsamkeit seiner
Mutter schuldig zu fühlen. Er konnte nicht sagen, wann er es erfahren hat, ihm
war, als wäre er mit dieser Schuld auf die Welt gekommen. Er kam nicht dazu, zu
fragen, warum er seinen Vater nicht kennt. Der Grund wurde ihm erklärt lange
bevor er danach fragen konnte. Er erinnerte sich genau, wie seine Mutter ihm zu
Weihnachten ein Rennauto schenkte und, währen er in kindlicher Ungeduld das
Geschenkpapier samt der Verpackung in Stücke riss, den Kuchen anschneidend
seufzte: „Hätte Peter sich nur vorstellen können ein Kind zu haben, hätte er
vielleicht auch einen Sohn gewollt. Dann würdet ihr jetzt spielen können.“ Sie
war so allein. Seit Ilja sich erinnern konnte, war sie immer allein. Abends,
wenn sie sich nach einem langen Tag, nachdem Ilja ins Bett gebracht wurde,
einen Cherry genehmigte, saß sie häufig in ihrem Sessel vor dem Fernseher und
führte Selbstgespräche, die Peter galten. Sie erzählte ihm, dass es nicht ihre
Schuld gewesen sei, manchmal komme sowas eben unverhofft. Jetzt sei es nun mal
passiert, man müsse das Beste daraus machen. Sie würde es schon schaffen, auch
ohne Peter. Andere Frauen hätten es auch geschafft und wenn Ilja erst mal
flügge sei, dann werde sie schon glücklich werden, auch ohne Peter, er werde
schon sehen.
Ilja wusste um jedes einzelne dieser verbitterten
Selbstgespräche. Doch während die Mutter sprach, stellte er sich jedes Mal
schlafend, gar für sich selbst. Er versuchte so sehr seinen Schmerz und sein
Schuldgefühl darüber zu verdrängen, dass er der Grund für die Einsamkeit seiner
innig geliebten Mutter war, dass er zuweilen bestrebt war, sich in der
Dunkelheit aufzulösen. Aber es gelang ihm nicht. Er war immer da und konnte
hören, wie sie ihren Schmerz pflegte. Sie tat es Abend für Abend und jedes Mal
fiel Ilja in den rettenden tiefen Dämmerschlaf, in dem ihn seltsame Wesen
verfolgten und ihm genau die Pein androhten, von der zu fliehen er so sehr
bestrebt war. So lernte Ilja das Unvermeidliche kennen. Er hat seine Mutter so
sehr geliebt und sich so sehr Liebe von ihr gewünscht – aber er wusste nicht,
wie er das artikulieren sollte. Wie sollte er ihr sagen, dass die Liebe, die
Geborgenheit, die Peter ihr, sobald er von ihrer Schwangerschaft erfuhr,
entzogen hatte, inzwischen Fleisch geworden war und darum flehte, gesehen zu
werden. Nicht gepflegt oder versorgt, – gesehen.
Als erwachsener Mann saß Ilja auf dem Boden
seiner Küche und fragte sich, wer er war. Alles, was er je bewusst gewesen war,
war Schmerz. Schmerz darüber, dass sein Vater ihn verschmähte, ohne ihn
angesehen zu haben, Schmerz darüber, dass seine Mutter es ihm nie vergeben
konnte, dass sie seinetwegen verlassen wurde; Schmerz seiner vermeintlichen
Schuld. Nichts zerfrisst die Seele eines Kindes so sehr, wie eine selbst
aufgebürdete Schuld, die, die weder erfasst noch getragen werden kann.
Was bedeutet Schuld? Kein Philosoph und kein Narr
kann es beantworten. Aber der kleine Ilja wusste es genau. Schuld war die
Verantwortung für etwas, das er nicht zu beeinflussen vermochte. Seine bloße
Existenz war Schuld, denn sie verursachte Leid, trennte Liebende. Für den
kleinen Jungen, der sich im Takt seiner schluchzenden Mutter in der Dunkelheit
auflösen wollte, bedeutete das Sein die Schuld; zu viel für einen unmündigen
Geist. Die Schuld ist eine Ausgeburt der Angst vor dem Verlust. Und Ilja kannte
den Verlust lange bevor er die Geborgenheit kannte. Die Angst ließ ihn
erstarren; sie war seine eigentliche Gebieterin. Er hatte stets so viel Angst,
eine Frau könnte so viel Macht über ihn erlangen, wie sie seine Mutter hatte.
Gisela konnte er diese Macht nicht entziehen – sie schenkte ihm das Leben und
das hatte seinen Preis. Erst für sie und jetzt auch für Ilja. Aber niemand
sonst auf der Welt durfte Iljas Seele beherrschen. Ja, genau das war es, was er
unter Liebe verstand: Beherrscht zu werden. Wenn er geliebt wurde, hat er
geherrscht, wenn er geliebt hat, wurde er beherrscht. Ist Leidenschaft von der
Liebe zu trennen? Da Ilja es nie gewagt hat, zu lieben und auch sonst
außerstande war, zu empfinden, glaubte er die Antwort nicht zu kennen. Wie
sollte er auch ahnen, dass es darauf keine Antwort gibt? Das Leben ist eines
der wenigen Dinge, die sich nicht theoretisch erfassen lassen. Das war eine
Einsicht, von der Ilja sehr weit entfernt war. Wenn er leben wollte, musste er
sich nur dessen bewusst werden, dass er seit 40 Jahren dabei war, es zu leben.
Aber sein mutiges, erwachen wollendes Bewusstsein löste sich auf in den
Strahlen der aufgehenden Sonne. Es schlug die Stunde der Angst
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen