Freitag, 27. Mai 2016

In der Wüste



Im Minutentakt taucht der Himmel in bläulich-oranges Purpur. Die unendlichen, gleichmäßigen und zarten Wellen des Sandes, die tagsüber noch bläulich schienen, verfärben sich nach und nach lila.
Farblich bilden der Himmel und die Wüste am Horizont eine Einheit – orange-lila farbige  Pinselstriche gehen vom Horizont aus nach oben, von der dunkel gelben Disk der Sonne in der Troposphäre über die rötliche Stratosphäre bis hin zum edelsten Purpur der Mesosphäre. Der Sand spiegelt die Farben des Himmels wie Wasser. Die Kontraste der einzelnen Farbsegmente werden immer deutlicher, bis die Nacht ihren dunklen Schleier fallen lässt.
Der Mond thront am nächtlichen Himmel zusammen mit den Glasperlen der Sterne seinen weißen Gruß an die Erde. Das Licht der Nacht ist so kalt wie sie selbst. Sie scheint kurz. Zögerlich und schüchtern beginnen die Sterne ihre Unterhaltung. Sie erkundigen sich nach meinem Wohlergehen und nach dem Ziel der Reise. Ich kann jedoch nicht erzählen, was ich nicht weiß.
Wer bin ich, was fühle ich, wohin will oder soll ich – ich habe keine Antworten auf diese simplen Fragen. Ich frage die ehrwürdigen Himmelskörper, ob sie vielleicht eine Antwort auf diese Fragen wissen? Sie sind so weise und sehen so viel – kannten wir uns vielleicht, bevor ich Mensch wurde? Waren sie schon mal Menschen oder ist diese Form des Seins zu simpel für die ewige Schöpfung?
Die silbrige Nacht erreicht ihren monochromen Höhepunkt und im Zenit meiner Offenbarung werden die silbrigen Schatten kürzer und der erste zarte, rötlich-gelbliche kündigt den Beginn eines neuen Tages an.
Wie eine Königin ihren Thron besteigt die Sonne die Himmelsscheibe. Das Licht ihres Heiligenscheins überstrahlt die Sterne und den Mond; das kalte, schwarz-weiße Schauspiel der Nacht weicht im Rhythmus meines Herzens der gelben Farbpallette des Tages. Die Wellen des Sandes erstrecken sich, soweit mein Auge sehen kann – von einem Hügel zum nächsten. Der gesamte Horizont wird von Hügeln umrandet, die, wie Märchenschlösser, im Nebel des Sonnenlichts liegen und dem Himmel ihre staubigen Grüße empor schicken.
Wenn es mir vergönnt wäre, frei zu sein, könnte da der Ort meiner Bestimmung eine Rolle spielen? Diese Frage ist nicht zu beantworten, da das Leben, im Gegensatz zu den Gesetzmäßigkeiten der Sprache, keinen Konjunktiv kennt. Ich weiß aber mit Gewissheit, dass der beste Ort, um die Erde zu verlassen, die Wüste ist. Wie ein Ozean wird sie mein Geheimnis verbergen.

Mittwoch, 6. Januar 2016

Iljas Welt #7

Zum wiederholten Mal in seinem Leben hatte Ilja das Gefühl, verloren zu haben. Verluste – mit diesem Thema kannte er sich aus; aber der gegenwärtige war ihm der schmerzhafteste. Tief saß der Schmerz seines Schuldempfindens, denn wie immer, wenn er einen Verlust erlitt, fühlte er sich schuldig. Das Schuldempfinden war sein alter Begleiter, ein Freund fast, den er noch lange vor der Liebe kennenlernte, und der jedes Mal zurückblieb und Ilja Gesellschaft leistete, wenn eine Liebe dem Verlust zum Opfer fiel.
Im Grunde war es nichts Unerwartetes, denn Ilja ging stets davon aus, dass seine Liebe zum Scheitern verurteilt ist. Nichts anderes war vorgesehen oder möglich in der Welt, die er sein Eigen nannte. Nur fand Ilja für gewöhnlich einen nostalgischen Zauber darin, sich der Grübelei um seine Einsamkeit hinzugeben, wobei ihm ein leise wimmerndes Schuldgefühl zuflüsterte, dass er im Unrecht sei, während er sich andererseits genüsslich der Vorstellung hingab, eine einsame Seele inmitten der weiten Welt zu sein. Diesmal war etwas anders. Ilja hörte nur das Schuldgefühl, es gab keine nostalgisch-masochistische Gegenstimme in ihm. Ilja war eine von der Schuld geplagte Seele inmitten einer sich der Nacht hingebenden Welt. 
Was geschah mit der Nostalgie? Seit so vielen Jahren war sie seine Begleiterin, wenn er jedes in ihm aufkommende zärtliche Gefühl aus Angst vor etwas, was er nicht beim Namen nennen konnte, dem schicksalhaftem Untergang weihte, was ihn sowohl von der Notwendigkeit, zu fühlen, als auch von der, mit zu fühlen, befreite. Doch Nachts, wenn der sinnlose Traum ihm wiederholt den Schlaf raubte, Ilja dem Wunsch nicht widerstehen konnte, der Welt zu entfliehen und die Flucht vor dem Küchenfenster endete, begann Iljas stille Beichte an den Mond, der auf alles eine Antwort wusste.
Der Mond wusste, wie viel Schuld Ilja in seiner Brust barg und wie schwer sie ihn bei Zeiten atmen ließ. Der Mond wusste auch, welche Sehnsucht Iljas stumpfes Schuldempfinden übertönte, dieses nagende Verlangen nach Etwas, nach Empfindung, nach Leben. Nacht um Nacht trug Ilja dem Mond seinen verzweifelten Monolog vor, gab sich der Trance der Einsamkeit hin, flehte und hoffte, ein Mann zu werden, der dieses zerrende Ritual ablegen kann, um etwas zu tun, was Ilja noch nie bewusst getan hatte – leben.
In der grenzenlosen Einsamkeit seiner vom Mondlicht überfluteten Küche, war Ilja bereit, ein anderer Mann zu werden, als er es bei Sonnenlicht war, wenn ihn die Unsicherheit lähmte. 
Im silbernen Licht war Ilja ein weiser Mann. Er wusste, dass es keinen Grund gibt, sich vor dem Leben zu ängstigen, nach dem es ihn verzehrt. In diesem Licht wusste er, dass das Leben gut war und ihn annehmen wollte. Aber in wenigen Stunden würde es Tag werden, das Licht grell und die Welt würde sich in die Realität verfärben, die ihn wie eine unsichtbare Mauer von dem trennt, was er eigentlich sein möchte: Der weise Mann des Mondlichtes. Er hatte nur noch wenige Stunden, um diesen in sich einzuprägen, ihn sich soweit einzuverleiben, dass wenigstens ein schwacher Funke seiner Einsichten und Empfindungen den realen Ilja der Sonne durchströmen können.
Was für ein Segen es sein muss, dem Verlangen des Herzens unbedacht nachzugeben. Dieser große, unbeschreibliche Kloß, der Anfang und Kern seiner emotionalen Verwirrung, er würde sich auflösen, sobald er selbstvergessen aussprechen könnte, was so herrlich in der Brust brannte. „Ich liebe dich… Lass mich nur mit den Fingerkuppen den Rand deiner Lippen berühren… Lass mich nur den Duft deiner Haut einatmen…“. Oh, herrlicher Mondlicht, wie leicht kamen diese Worte über Iljas trockene Lippen, wenn du dar niederschienst!... 
Wie erschreckend allein die Erinnerung an sie im Licht der Sonne sein wird. Im Licht des hellsten Nachtgestirns konnte er nicht verstehen, welcher Zwang den Sonnen-Ilja an seinem Glück hinderte. Wenige Stunden trennten Ilja von seiner Verwandlung. Die Einsicht in den Zwang würde mit dem aufkommenden Tageslicht den Platz in Iljas Brust einnehmen, der zurzeit die Sehnsucht und Reue eine Herberge waren.
Ilja klemmte seinen Kopf noch fester zwischen den Knien ein. Diesmal wollte er kämpfen. Er wollte mehr aus seinen nächtlichen Einsichten mitnehmen, als die bloße Erinnerung. „Tue es jetzt! Rufe sie an.“ Allein beim Gedanken daran, Isabells Stimme zu hören, wich seine Sehnsucht der Angst. Was, wenn sie nicht zuhören will? Was, wenn sie ihn zurückweist? Sie hätte Gründe dazu. Ilja selbst hat sie so oft zurückgewiesen und mit emotionaler Kälte gestraft; konnte er erwarten, dass Isabell ihm vergibt? Sie hatte immer gefleht, er möge lebendig werden.
 Ilja selbst hat auch immer auf das Leben gewartet. Er hat so viele Nächte damit verbracht, sich der Glut seiner imaginären Leidenschaften hinzugeben. Susanna, die zarte Liebe seiner Jugend, ihre Schönheit, ihre Grazie haben ein Feuer in Iljas Brust entfacht, dass er an seinen Fantasien zu verbrennen drohte. Wie sollte er bloß dieses Feuer ins wahre Leben mitnehmen? Woher sollte er den Mut nehmen, sich derart zu offenbaren? Diese Fragen beschäftigten Ilja seither und er hatte darauf keine Antworten. Er existierte, in der Erwartung, dass eines Tages etwas geschehen würde, was ihn von dem Zwang befreite, sich überlegen fühlen zu müssen. Dieser Zwang resultierte aus der tiefen Angst des Nicht-Gut-Genug-Seins und verlangte eine distanzierte und kühle Haltung ab. Jede Emotion konnte eine Schwäche verraten, deswegen waren Emotionen nur in der Einsamkeit des Mondlichtes möglich; bei Tage und in Gesellschaft dagegen eine wohl anerzogene Freundlichkeit, hinter der sich eine ängstliche Distanz verbarg. 
Für einen kurzen Augenblick seines Lebens, vor langer Zeit, schien es für Ilja greifbar, die Angst und den Zwang durch die ergebene Zärtlichkeit, das Geschenk seiner Jugendliebe, zu bändigen.
In einer kleinen Diskothek am Rande Rahlstedts, die er als Zwanzigjähriger jeden Samstag aufsuchte, um einsam inmitten der Menschenmenge ein Mineralwasser zu trinken, sprach ihn im Sommer 1992 ein Mädchen an. Als Ilja gerade ansetzte, um den letzten Schluck zu trinken, tippte ihn jemand sachte am Ellenbogen an. Er drehte sich nach rechts und sah ein großes, schlankes Mädchen; zart lächelte sie Ilja an mit grünen Zähnen im grellen Neonlicht. „Magst du tanzen?“ Sein Herz schlug plötzlich schneller und die Brust hob sich – war es das, war das die Befreiung? „Ja, gerne.“ Sie tanzten ein Weilchen, sie erzählte ihm, dass sie Anita heiße und aus Rostock komme. Sie wolle in Hamburg eine Anstellung finden und sei vor vier Wochen hier hergezogen. „Kommst du aus Hamburg?“ „Ja, ich wohne hier in der Gegend. Wenn du magst, kann ich dir die Stadt zeigen.“ „Das wäre schön. Hast du morgen Zeit?“ „Morgen… Nein, morgen kann ich nicht. Wie wäre es mit nächstem Sonntag?“ „Gut; rufst du mich an?“ Anita schnappte sich eine Serviette und notierte ihre Telefonnummer. „Ja… danke… ich rufe dich nächsten Sonntag an.“ Sie tanzten weiter; Ilja kaufte Anita ein Getränk und brachte sie ein Stück weit nach Hause. Es war gelogen, dass er am nächsten Tag keine Zeit hatte; es hatte ihm nur Angst gemacht, so unkompliziert einen Menschen in sein Leben hereinzulassen. Aber er ließ Anita herein. Zögerlich-abwartend, was bei ihr ein besonders vertrauensvolles Gefühl erweckt hatte, gestattete es Ilja Anita, ein Teil seines Lebens zu werden. Es war eine aufregende Zeit für Ilja. Ihm schien, als sei er endlich der Liebe begegnet und in seinen Fantasien stellte er sich immer vor, er würde, sobald die Liebe ihn fand, erwachen, ein richtige, glückliches Leben beginnen, weit jenseits aller Ängste und Unsicherheiten. Die Zeit verging, er tat und gab das, was er für Liebe hielt und nahm welche an, ohne dass es in seiner Brust zu diesem heiß stechenden Ausbruch käme, den er regelmäßig in seinen Fantasien erleben durfte. Ilja war verunsichert und verwirrt, eine Liebe ohne diesen Ausbruch hatte er sich nie vorgestellt. Doch es geschah nichts. Die Zeit verging, schon über ein Jahr, aber die zärtliche und kindlich-schüchterne Anita entfachte in Iljas Brust kein flammendes Feuer, nur eine Friedlichkeit, in der Ilja zu dämmern schien. Genau diese Friedlichkeit war es, die Ilja für kurze Zeit eine Illusion der Liebe vortäuschte. Ilja war so sehr versessen auf diesen Gefühlsausbruch, dass er eines unüberlegten Nachts den verführerischen Augen einer anderen jungen Frau folgte. Sie war lebendig und ausgelassen und Ilja trank sie, wie ein Vampir, und pochte in ihrem Rhythmus, aber sie heilte ihn nicht. Das Leben war vor ihm, glühend rief es nach ihm und er biss sich darin fest, aber er konnte es nicht fühlen. Seine Brust blieb leer. Sein Herz schlug schnell, seine Hände kribbelten und die Lippen brannten, aber seine Brust war leer.
Ermattet, beschämt und erstarrt kehrte er im Morgengrauen zu Anita zurück und weinte und flehte in ihrem Schoss um Vergebung. Er fand keine und das war schon der zweite Verlust seines jungen Lebens, den er selbst verschuldet zu haben glaubte.
Verluste… selbstverschuldete Verluste, nicht rückgängig zu machen und auch nicht zu vergeben. Man verliert, wenn man nicht gut genug ist zu erhalten oder zu erlangen, – das war Iljas Wahrheit. Von allen seinen unbedachten Verlusten war Ilja das Licht Isabells der schmerzhafteste. Er hatte sich mit dem dumpfen Schuldgefühl seiner Kindheit abgefunden. Früh, viel zu früh kam Ilja zu der schweren Last, sich für die Einsamkeit seiner Mutter schuldig zu fühlen. Er konnte nicht sagen, wann er es erfahren hat, ihm war, als wäre er mit dieser Schuld auf die Welt gekommen. Er kam nicht dazu, zu fragen, warum er seinen Vater nicht kennt. Der Grund wurde ihm erklärt lange bevor er danach fragen konnte. Er erinnerte sich genau, wie seine Mutter ihm zu Weihnachten ein Rennauto schenkte und, währen er in kindlicher Ungeduld das Geschenkpapier samt der Verpackung in Stücke riss, den Kuchen anschneidend seufzte: „Hätte Peter sich nur vorstellen können ein Kind zu haben, hätte er vielleicht auch einen Sohn gewollt. Dann würdet ihr jetzt spielen können.“ Sie war so allein. Seit Ilja sich erinnern konnte, war sie immer allein. Abends, wenn sie sich nach einem langen Tag, nachdem Ilja ins Bett gebracht wurde, einen Cherry genehmigte, saß sie häufig in ihrem Sessel vor dem Fernseher und führte Selbstgespräche, die Peter galten. Sie erzählte ihm, dass es nicht ihre Schuld gewesen sei, manchmal komme sowas eben unverhofft. Jetzt sei es nun mal passiert, man müsse das Beste daraus machen. Sie würde es schon schaffen, auch ohne Peter. Andere Frauen hätten es auch geschafft und wenn Ilja erst mal flügge sei, dann werde sie schon glücklich werden, auch ohne Peter, er werde schon sehen.
Ilja wusste um jedes einzelne dieser verbitterten Selbstgespräche. Doch während die Mutter sprach, stellte er sich jedes Mal schlafend, gar für sich selbst. Er versuchte so sehr seinen Schmerz und sein Schuldgefühl darüber zu verdrängen, dass er der Grund für die Einsamkeit seiner innig geliebten Mutter war, dass er zuweilen bestrebt war, sich in der Dunkelheit aufzulösen. Aber es gelang ihm nicht. Er war immer da und konnte hören, wie sie ihren Schmerz pflegte. Sie tat es Abend für Abend und jedes Mal fiel Ilja in den rettenden tiefen Dämmerschlaf, in dem ihn seltsame Wesen verfolgten und ihm genau die Pein androhten, von der zu fliehen er so sehr bestrebt war. So lernte Ilja das Unvermeidliche kennen. Er hat seine Mutter so sehr geliebt und sich so sehr Liebe von ihr gewünscht – aber er wusste nicht, wie er das artikulieren sollte. Wie sollte er ihr sagen, dass die Liebe, die Geborgenheit, die Peter ihr, sobald er von ihrer Schwangerschaft erfuhr, entzogen hatte, inzwischen Fleisch geworden war und darum flehte, gesehen zu werden. Nicht gepflegt oder versorgt, – gesehen.
Als erwachsener Mann saß Ilja auf dem Boden seiner Küche und fragte sich, wer er war. Alles, was er je bewusst gewesen war, war Schmerz. Schmerz darüber, dass sein Vater ihn verschmähte, ohne ihn angesehen zu haben, Schmerz darüber, dass seine Mutter es ihm nie vergeben konnte, dass sie seinetwegen verlassen wurde; Schmerz seiner vermeintlichen Schuld. Nichts zerfrisst die Seele eines Kindes so sehr, wie eine selbst aufgebürdete Schuld, die, die weder erfasst noch getragen werden kann.
Was bedeutet Schuld? Kein Philosoph und kein Narr kann es beantworten. Aber der kleine Ilja wusste es genau. Schuld war die Verantwortung für etwas, das er nicht zu beeinflussen vermochte. Seine bloße Existenz war Schuld, denn sie verursachte Leid, trennte Liebende. Für den kleinen Jungen, der sich im Takt seiner schluchzenden Mutter in der Dunkelheit auflösen wollte, bedeutete das Sein die Schuld; zu viel für einen unmündigen Geist. Die Schuld ist eine Ausgeburt der Angst vor dem Verlust. Und Ilja kannte den Verlust lange bevor er die Geborgenheit kannte. Die Angst ließ ihn erstarren; sie war seine eigentliche Gebieterin. Er hatte stets so viel Angst, eine Frau könnte so viel Macht über ihn erlangen, wie sie seine Mutter hatte. Gisela konnte er diese Macht nicht entziehen – sie schenkte ihm das Leben und das hatte seinen Preis. Erst für sie und jetzt auch für Ilja. Aber niemand sonst auf der Welt durfte Iljas Seele beherrschen. Ja, genau das war es, was er unter Liebe verstand: Beherrscht zu werden. Wenn er geliebt wurde, hat er geherrscht, wenn er geliebt hat, wurde er beherrscht. Ist Leidenschaft von der Liebe zu trennen? Da Ilja es nie gewagt hat, zu lieben und auch sonst außerstande war, zu empfinden, glaubte er die Antwort nicht zu kennen. Wie sollte er auch ahnen, dass es darauf keine Antwort gibt? Das Leben ist eines der wenigen Dinge, die sich nicht theoretisch erfassen lassen. Das war eine Einsicht, von der Ilja sehr weit entfernt war. Wenn er leben wollte, musste er sich nur dessen bewusst werden, dass er seit 40 Jahren dabei war, es zu leben. Aber sein mutiges, erwachen wollendes Bewusstsein löste sich auf in den Strahlen der aufgehenden Sonne. Es schlug die Stunde der Angst