Freitag, 29. Oktober 2021

Die Stunde schlug

Die Dämmerstunde brach herein und Ilja betrat die auserkorene Vergnügungsstätte. Trunken vom Wein nahm er seinen Aufenthaltsort in Augenschein. Die Musik schrie so laut, dass das gewöhnliche Surren, welches sich einstellt, sobald eine Menschenmenge sich versammelt, vollkommen übertönt war vom Groove der Bässe; ihnen nacheifernd flimmerte das Licht im Takt der Akkorde und sogar das Herz begann, sich dem Rhythmus anzupassen.
Wie erwartet, fühlte sich Ilja höchst abkömmlich bei dieser Lustbarkeit des Lebens. Wie durch einen Schleier sah er sich das überschäumende Treiben an. Alle schienen zu frohlocken; allein Ilja sah sich von Menschen umgeben, die - auf der Suche nach einem schlichten Entzücken - falsch abgebogen waren. Bezecht und wankend auf diesem lauten Fest, trachteten sie nach Wohlbehagen und Gebrauch für sich selbst und ihre Sehnsüchte.
Von Zeit zur Zeit gingen die Geschöpfe aufeinander zu, wie zwei Funken in Erwartung eines Feuerwerkes. Ilja sah sich das Possenspiel an und wusste um die Enttäuschung des nächsten Morgens, wenn - nachdem man sich über Nacht im eigenen Begehren gewärmt - das eigene Glück in den Schoß des Anderen legte, um die Verantwortung für das Unausweichliche nicht selbst tragen zu müssen. Dies Zusammenspiel kannte Ilja zur Genüge - im Grunde seines Herzens weiß ein jeder Mensch, wie wenig er dabei findet und wie viel verliert. Die stupide Narretei der Hoffnung treibt jedoch dazu an, es stets auf`s neue zu versuchen - von der Idee besessen, nur dieses eine Mal möge das wankelmütige Glück haften bleiben.
Ilja verstand die Welt nicht mehr; er hat aufgehört, sie zu verstehen, als in ihm das Gefühl aufkam, die Liebe sei etwas Schlechtes. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt lebte er im Zukunftsglauben des Guten und das Gute war die Liebe. Schleichend berückte Ilja die Angst, bis er feststellte, mit der Liebe etwas Frevelhaftes zu verbinden. Von da an fühlte sich Ilja nicht länger mit seiner Umwelt verbunden - denn das und nichts anderes meinen wir, wenn wir sagen, wir verstünden unsere Weltgebäude oder täten es nicht.
Wieso war Ilja hier? Verstohlen auf wundersame Genesung hoffend, bekam er unerwartet den Spiegel vorgehalten - die Seele verlang nach Wärme und Liebe und, im Gegensatz zum Menschen, lässt sie sich nicht lumpen; das Herzstück kennt sein Recht. Gerichtet auf den Einen kann sie sein - nicht anders, nur sein. Und das, wonach die Seele so sehr strebte, das konnte ihr die Vergnügungsstätte nicht geben - nicht, dass an der Lokalität etwas falsch wäre, sondern weil die Seele nach Versöhnung mit ihrem Schöpfer und durch ihn auch mit der Welt verlangt.
Ilja war betrunken und müde: Er ergab sich - es nicht an den anderen Menschen gelegen, die verloren gegangene Verbindung zu heilen. Wenn andere Menschen uns wehtun, dürfen wir uns verschmäht fühlen. Aber zu erwarten, dass andere diese Wunden gesunden, ist falsch. Das dürfen und können sie nicht - das heilige, heilende Gespräch, dessen es zur Gesundung bedarf, kann ein jeder Mensch nur mit dem Einen führen, weil Er der Einzige ist, der die Antworten kennt. Und die Seele ist die Einzige, die sie hören kann. Sie ruft die Engel zusammen, die über ihr die Fittiche ausbreiten, damit Sein Licht wie reinigender Regen den Schmerz flutet.   
In diesem Licht wusste Ilja, das Dasein ist ein immerwährender Kreislauf - der Ausgang steht von Anbeginn an fest und das Spiel läuft. Seine Zeit ist die Ewigkeit - es ist also alleine an uns, wie lange wir brauchen, um heimzukehren; und sind wir einmal heimgekehrt, so hüllt sich der Weltenbau in das Dunkel der Nacht, um am nächsten Morgen aufzuerstehen - ohne einen Anfang und ohne ein Ende ...

Mittwoch, 21. April 2021

Das Leben und die Frage nach Glück scheinen untrennbar verbunden.

 

 

Das Leben ist die einzige Gewissheit, die dem Menschen gegeben. Jahrmilliarden des Daseins; was der Mensch aber wahrnimmt, ist die Aneinanderreihung der, scheinbar vom Zufall emporgebrachter, Ereignisse und dahinter der Zwang der Vorsehung, das Karma, das ängstigt. 

Wie viele sind im Schoß der Ewigkeit versunken? Niemand hier auf Erden kann das sagen; niemand zählt mit. Ihre Geschichten, zusammengefasst zu Zeitaltern und Epochen; und sie, die Namenlosen, haben ihre Welt geformt und verändert, nach etwas getrachtet, es erreicht oder sind gescheitert. Ihr Sein war Streben und diese Suche, dieses Fragen hinterließ uns das Erbe, in Kultur, Religion oder Wissenschaft.

Was war das Streben? Wozu ruft die Seele auf? Sie verlangt nach dem Absoluten, es ist ihr Quell und, sobald die Reise des Irdischen angetreten, auch ihr Ziel. Die Krone der Schöpfung vernimmt diesen Ruf als ein Verlangen, eine Sehnsucht. Die Sehnsucht zu stillen, das macht das Streben aus. Wie die Sehnsucht zu stillen ist, das gilt es während der Reise herauszufinden; der Wille, der das Feuer des Herzens entfacht, wird den Weg hoffentlich zu weisen wissen; die Erinnerung an das Absolute aber schwindet, sobald die Seele das Diesseitige erreicht. Allein der Ruf der Sehnsucht kitzelt von innen und erweckt das Streben, denn es ist die Bestimmung, dem Rufe der Seele zu folgen.

Der sinnliche Mensch unterliegt nur zu leicht der Verlockung, sich selbst als das einzig Wahre anzunehmen. So ergab es sich, dass vielfach Niederes zum Ziele galt. So und noch anders kam Leid in die Welt und schuf diesen scheinbaren Widerspruch zwischen dem Absoluten und dem, was irdische Bewusstsein Realität nennen.

So kam es, dass Menschen sich Ziele setzten, und, sofern sie diese erreichten, erfuhren sie ein Empfinden tiefster Zufriedenheit, eine Glückseligkeit, ein Anflug von Liebe, dies Seelenelixier. So strebte die Menschheit nach Glückseligkeit für einen Hauch von Liebe.

Was ist Glückseligkeit? Zunächst ein Gegensatz zum Leid. Ist Glückseligkeit ein Zustand? Dann ist es das Leid auch. Ist es an einem konkreten Ereignis festzumachen? Das Leid ist es häufig. Kann Leid durch Glück aufgehoben werden? Das Glück kann es.

Und schließlich, wonach streben Menschen? Ganz gleich, was ein Mensch auch tut, er tut dies, um seine tiefe Sehnsucht zu stillen, um dem Rufe seines Innersten zu folgen. Wozu ruft ihn sein Innerstes? Das eines jeden Menschen zu etwas anderem, möchte man meinen. Jemand möchte reich, ein anderer berühmt und ein Dritter gebildet oder anerkannt sein. Ja, das sind verschiedene Bestreben und Ziele; doch wozu werden sie alle bemüht? Doch nur um der besagten Sehnsucht willen, diesem nagenden Gefühl an der Seele Grund, das die Menschen dazu antreibt, sich so zu verhalten, wie sie es tun - herzlich oder grausam. Das Stillen eben dieser Sehnsucht ist des Menschen Streben nach Glückseligkeit, denn ein tiefer Instinkt, eine Art Vorahnung, sagt ihm, dass er ein gutes, ein leichtes Gefühl in seinem Herzen haben werde, sobald er diese Sehnsucht gestillt hat.

Die Schwierigkeit besteht darin, dass sie sich häufig über die tieferen Beweggründe ihres Handelns nicht bewusst sind. Sie tun all die Dinge, die sie tun, im Glauben, damit ein ganz konkretes Ziel zu erreichen, ihre Existenz zu sichern oder ein Unglück abzuwenden, welches ihnen oder ihrer Familie schaden könnte. Auch das sind auf Glückseligkeit gerichtete Bestreben, denn ein Mensch, der so handelt, ist glücklich, wenn er seine Familie beschützt weiß. Wenn dieser Mensch sein Leben bewusst darauf ausrichten würde, so würde er, anstatt ein innerlich verängstigter Beschützer zu sein, der stets bemüht ist, die nächste Katastrophe abzuwenden, sich zu einem mutigen Menschen entwickeln, der weit- und umsichtig seine Lieben durch das irdische Dasein führt. Ein solcher Mensch wäre ein Beschützer, kein Opfer der Umstände. Das Bewusstsein um das Getane, das ist es, was ein Mensch braucht, um sein Dasein dieser seiner Bestimmung zu überlassen.

Es sind also vier Größen, die der Menschen Leben dominieren: Ihr Sein, die Bestimmung ihres Seins und die Einsicht, dass diese Bestimmung keine zufällige ist, sondern eine Notwendigkeit, weil ein Höheres das Sein und die Bestimmung lenkt. Die letzte Größe ist das Leid, mit welchem sich das menschliche Sein von Anbeginn der Zeit konfrontiert sieht, welches zuweilen als ein Gegenspieler des Absoluten, sein Widersacher, angesehen wird und viele Namen trägt.

Dabei ist das Sein selbst das Einzige, was unbestreitbar ist. Und es ist allein durch seine Bestimmung gerechtfertigt. Nur dann wird der Drang der Menschen nach dem Höheren, welcher ihrer Existenz schon immer innewohnte, ganz gleich wie hoch entwickelt die von ihnen geschaffenen Kulturen auch waren, verständlich. Es ist die Bestimmung der Menschen nach Glückseligkeit zu streben, welche wiederum im Höheren verborgen liegt. Was ist das Höhere? Was ist diese Sehnsucht? Das kann allein die Liebe sein, denn nichts anderes bringt den Menschen Frieden und beruhigt ihre Angst, als wenn sie Liebe in ihre Herzen lassen.

Das Leben, das Sein, diese Gefangenschaft in der Freiheit aller Möglichkeiten, welchen Sinn hätte es, ohne ein Höheres des Universums, das unser Begehren über die Zeiten und die ungezählten Opfer hinweg schon immer rechtfertigte, weil es das Angestrebte selbst ist, ein höchstes Gut - ein Absolutes also?

Der Gewahrsam in der Eigenverantwortlichkeit ist ein Selbstzweck, weil voller Möglichkeiten. Das Sein ist der Schlüssel, denn Alles, Was Ist, ist das Sein. Der Tod beendet die Gefangenschaft in der Freiheit und damit auch alle Möglichkeiten derselben; er leitet die Freiheit in der Gefangenschaft der Liebe ein. Dort, wo wir in der Liebe sind, haben wir keine Wahl; wir brauchen sie nicht länger; in der Liebe sind wir am Ziel.

Gefangen in der Freiheit seiner Möglichkeiten sieht der Mensch seines Willens Antlitz. Der Wille ist des Menschen Wärter und Urgrund. Er leitet und entscheidet. Und der Mensch trägt die Verantwortung, selbst dann, wenn er sie leugnet und dem Verwahr seiner, meist verkannten, Selbstbestimmung anlastet. Es ist also das Sein, das notwendige und unvermeidliche Sein, welches das von Anbeginn der Zeit feststehende Ziel des Strebens - der Selbstverwirklichung - in einem Willensakt der Liebe erreichen darf.

Somit ist das Sein eine Notwendigkeit, die auf die Liebe als das höchste Prinzip überhaupt ausgerichtet ist.

Wie das Leid in unsere Welt kam? Das, so scheint es mir, ist eine notwendige Bedingung, hier, im Gewahrsam der Möglichkeiten; einen freien Willen zu haben, bedeutet eben wählen zu dürfen.

Um seine Bestimmung des Strebens nach dem Höheren der Liebe überhaupt erst wahrnehmen zu können, muss der Mensch die Wahl haben, zwischen der Liebe als Glück und der Angst als Leid. Philosophen haben die Angst und das Leid in ein Vielfaches geteilt - ein moralisches oder ein natürliches etwa, als ein gerecht- oder ungerechtfertigtes und je nach geltender Konstitution schien dies mehr oder weniger sinnvoll. Ungeachtet dessen blieben beide Größen im Raum: Das Leid und das Streben nach dem Höheren der Liebe.

Die Ungezählten, alle, die gelebt haben, sie haben diese Schlacht täglich geschlagen, welche die Theologen und die Philosophen durch eine rechte Strukturierung aufzulösen hofften; sie haben gelitten und ein jeder für sich hat nach einer Antwort gestrebt. Ein jeder hat diese Antwort bekommen, nur hat nicht jeder sie auch vernommen. Und diejenigen, die sie vernommen haben, haben sie nie derart beantworten können, dass es für alle Gewesenen, Seienden und Werdenden genügt hätte - dies scheint die Lücke des Systems, es kann nicht einer für alle sprechen. Es ist ein jeder noch so ehrgeiziger Seiende aufgerufen, die älteste Frage der Welt stets aufs Neue zu beantworten und die so schwer dem Leid entlockte Wahrheit genügt nur für einen Augenblick - dann ist auch sie dahin, da das Ewige Leben ein neues Seiendes emporgebracht.

So ist auch diejenige Geschichte, die so viele Jahre Leid mit sich brachte auch nur in dem Moment wahrhaftig, in dem sie vernommen wird und im nächsten verfliegt sie schon, wie das Leben selbst....