Dienstag, 9. August 2022

Unten, am Gipfel

  Am Anfang war die selbst erwählte Einsamkeit. Die Wüstenei frommte, allen Schmerz in Poesie umzustürzen. Im Elend und Pein lag die weise Wahrheit verborgen und nur sie allein konnte zur Erlösung führen. Damit erschien der Schmerz der einzige Weg, dem ich ergeben auf seinen düsteren Pfaden, hinunter, in die Dunkelheit, folgte.

Täglich und stündlich zerbrach mein Herz an den Weisheiten der Wahrheit, die der Schmerz desto großzügiger freigab, je tiefer ich in seine Gefilde eindrang. Viele Jahre und viele Strophen lang diente das hingebungsvolle Herz der auserkorenen Dunkelheit. Je tiefer ich in die Finsternis der Pein hinabstieg, desto dunkler wurde es und umso heller brannte das aufgebrochene Herz. Ich krankte am Weh, in dessen Wesen mich die Weisheit lockte.

Auf dem Grund der unerfindlichen Drangsal reizte die verborgene Wahrheit, der Urgrund meiner Marter und meine Hoffnung auf Errettung aus derselben. Um dem Übel zu entkommen, musste ich hindurch; unbemerkt wurde aus der Geißel ein Selbstzweck. Zuletzt hörte ich auf, die Jahre und Strophen zu zählen; allmählich blieben die Strophen aus. Mein Herz brannte aus und erlosch, während ich wie ein Suchtkranker nach der weisen Wahrheit lechzte und mich immer tiefer in die Dunkelheit hinunter wühlte, bis alles Licht verhauchte und alle Geräusche ruhten. Ohne des Herzens Licht – meines Lebens Geheiß – verstummte die Wahrheit und ich blieb allein – taub und blind – in der Finsternis.

Ich war ganz unten, am Gipfel des Schmerzes.

Verschlungen war ich; bar jeder Empfindung und Regung vernahm ich die Unendlichkeit der vorüberziehenden Augenblicke.

 

»Beklage nicht dein Weh um die Ödnis der Welt. Sie ist geboten, um zu hören. Inmitten des Fracas ist der Mensch taub – so ist der Weg des Höchsten ein Eremitenpfad ... Ich bin in dir, du kannst nicht irren, wenn du mich hörst; du bist ein Teil von mir und kannst mich nicht leugnen, ohne den Schatten anheimzufallen.«

»Wie lange dauert deine Reise schon? Nichts daran war zufällig; ein jeder Zerfall und jedes Hoch führten zum Ziele. So viele Seelen und Geschicke, über Jahrhunderte ineinander gewoben, damit an einem der Bewahrung nahendem Zweig des so lange gewiesenen Stammes der Überbringer der Versöhnung über die eigene Bestimmung stolpert.

Die Gefangenschaft deiner Lassheit ist nicht aus Zufall entstanden. Als die Möglichkeiten des Seins in die irdische Matrix gewoben wurden, ward festgelegt, welche Wege die Deinen sind. Lange Zeit haben die Hüter, die derart selbstlos und tapfer dein Los teilen, erbitterten Widerstand geleistet. Du aber, der Weisheit der Kinder mächtig, du wusstest, dass die Welt in jedem Augenblick ihres Bestehens vollkommen ist; so war es auch dein Siechtum. Als Kind hat es dich nicht bekümmert - du wusstest um deinen Auftrag. Deine harten Lehrjahre würden folgen – du hattest den Ruf Germaniens vernommen, als dich die Steppenwinde noch ihre Freiheit zu ertragen lehrten. Sie rief dich leise, unaufdringlich, beständig – so ist ihr Wesen und sie wartete geduldig. Teutonia ist so alt wie diese Welt und hat so viel gesehen - Blut und Gram haben sie schon zu früheren Zeiten bedeckt. Doch gleich, was die Menschen auf der Erde tun – unterhalb sind sie jederzeit verbunden. Auf unsichtbaren Pfaden fließt die Unterstützung dorthin, wo sie gebraucht wird - denn alle Menschen haben eine gemeinsame Wurzel. Du hast gelernt, was du bereits wusstest: Die Unfreiheit deines Gebrechens ist nicht zu besiegen. Allein deinen Frieden machen kannst du mit ihr – nicht aus Liebe noch aus Güte; einzig aus Mangel an Entschließung bist du der auserwählte Bote des Einklangs.

Deine lange Reise – vom unbekümmerten, weisen Kind über die Jahre der Maskerade, deren Zerfall in deiner Finsternis mündete, waren deine Lehrjahre. Das Ziel deines Seins wurde von dir festgelegt; allein durftest du bestimmen, wie lange deine Suche dauern sollte und wie tief deine Dunkelheit werden würde. Der Ausgang – dein Frieden – stand schon immer fest. Dir wurde so viel Liebe auf deinem Wege zuteil, dass kein anderer Ausweg möglich war. Deine Suche und Sehnsucht, deine Rufe – das alles führte dich über Schmerz und Zorn zum Einklang.

Vor Jahren offenbarte ich dir deine Mission und sagte, du hättest noch viel zu lernen; jetzt sage ich dir - du bist bereit und die Zeit reif.

Der Krieg tobt! Dein Krieg tobt!

Dein Verstand schreit vor Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten; lass es raus. Erhöre mich: Ich schlage ruhig. Ich weiß um etwas, das du des schreienden Verstandes wegen nicht hören kannst.

Weine, mein Kind. Weine um diejenigen, die Angst haben. Weine um diejenigen, die leiden und noch mehr um jene, die Leid säen. Weine um alle, die nach Vergeltung und Rache schreien. Weine um die, die im gerechten Zorn die Asche auf die Häupter ihrer Schuldigen streuen. Weine um jene, die Schuldige anprangern und ihren Unschuldigen Rache versprechen. Weine um alle, die Krieg mit Krieg bekämpfen wollen

 

Ich vernahm die Stimme und sah Licht in der Dunkelheit. Die Schatten blickten mich an.

 

»Wundere dich nicht, wenn du die Antwort auf deine Frage vernimmst. Dein Leben handelt davon. Du bist nicht mehr und nicht minder auserkoren, als jeder Andere – wer hinhört, der weiß Gott. In dir ist Orlog ausgebrochen; du fühlst dich zwiegespalten und verschmäht - das ist dein Frevel, deine Finsternis. Die Menschen auf der anderen Seite des Meinungshorizontes – sind sie deine Feinde? Deine Welt ist dualistisch – sie wandert zwischen Manie (der Arbeits- und Kaufsucht) und Depression. Siehe hin; fühle. Heile dich – dann heilst du deine Welt. Deine Schatten sind ihre Schatten; du weinst ihre Tränen in der Nacht. Im Schmerz lebst du alles, was du nicht sehen magst - deine Ombrage. Aber sie sind deine Kinder; sie wollen gesehen werden. Gib ihnen dein Licht - es ist ihr Geburtsrecht. Gib dir dein Licht. So ergeben hast du deinen Schmerz gelebt - warum streckst du nicht die Hand nach der Wonne aus? Tanze, tanze den Walzer deiner Trauer; lasse mich aufgehen; lass das Licht strömen - siehst du es? Wie die Kinder reichen deine Schatten dir die Hände, um den Reigen des Lichtes zu vollführen. Erlöse sie «

 

Ja, ich weiß um das Licht um mich – ich verliere es, weil ich dauernd die Dunkelheit fokussiere. Bin ich all der Liebe und des Lichtes würdig? Sie fragen nicht; sie sind da.

Wage ich es, meine zitternden Hände danach auszustrecken, so fühle ich mein Herz – in Kraft und in Dankbarkeit. Es weiß um unser Recht; es kann mich führen, wenn ich endlich hinhöre.

Die Wahrheit ist - ich kenne keinen Frieden; ich sehne ihn nur herbei. Ich kenne Müdigkeit, Gleichgültigkeit, Apathie. Ich kenne die vollkommene Abwesenheit jedweder Empfindungen. Ich kenne Angst. Lähmende Angst, Angst die erschaudern und erzittern lässt, seichte Angst, die, wie ein unsichtbarer Pickel unter der Haut sitzt und schmerzt, unaufhörlich. Ich kenne die Sehnsucht nach etwas, das ich mir wie ein Leben erträume. Aus meiner Kindheit erinnere ich mich daran, wie sich Glück anfühlte. Grenzen- und grundloses Glück – meine Brust war so unendlich weit und die Vorfreude auf alles – den Tag, das Leben, die nächste Stunde – floss durch meine Adern. Ich wusste darum, wie weit weg ich leben würde, ich hörte die Winde eine Sprache flüstern, die mir einst alles bedeuten würde - mein Herz rief danach und vernahm seinerseits den Ruf. Wie und wann habe ich all das verloren? In meiner unendlichen kleinen Welt, inmitten der Steppe, vernahm ich die Antwort jeder meiner Fragen. Im Dschungel der Großstadt, unter den vielen Menschen, in all dem lauten Durcheinander, erschrak ich und zog mich zusammen und zurück. Nach einigen Jahren erholte ich mich und kam zurück - ich fühlte mich stark, ich wusste, dass ich alles kann, was ich will. Ungeachtet meiner Begrenzungen erlebte ich so viel - ich brach jede Grenze, die ich wahrnahm. Und dann ...

Warum habe ich ausgerechnet im Elend des Schmerzes nach meiner Wahrheit gesucht? Wie kam es, dass ich mein Herz nicht länger hören konnte?

 

»Du hast gelernt, hinzuhören. Als Kind wusstest du es nicht besser. Und dir war nie klar, wie wertvoll unser Dialog ist. Jetzt hast du es gelernt; deine Lehrjahre waren dein Preis. Noch als du auf der Uni warst, sagte dir der weise Mann – du wirst schreiben! Und du haderst bis heute damit, es anzunehmen; würdest du bloß so hart daran arbeiten, zu schreiben, wie hart du daran arbeitest, zu zweifeln …

Alles, was es über das Leben zu sagen gibt, lässt sich in drei Worte fassen: Es geht weiter. Du lebst. Gelähmt vor Angst, bist du dennoch da, du atmest und lebst. Vielleicht nimmst du es nicht wahr, vielleicht willst du das nicht einmal – aber du lebst. Alles, was du hast, ist dieser eine Augenblick, der an dir vorüberzieht, jetzt gerade.

Frieden ist dein Herzensverlangen – es ist mein Verlangen. Dein ganzes Wesen sehnt sich danach. Weil du ihn in deinem Leben so sehr gewollt hast, darfst du ihn endlich leben.

Im Leben ist nichts endgültig; so kann auch der Friede einer zwischen zwei Kriegen sein. Wie die Sonne täglich neu aufgeht, muss auch der Friede täglich – und manchmal auch stündlich – neu beschlossen und gewählt werden.«

Dienstag, 19. April 2022

 

Versiegt des Argwohns will ich endlich sein!

Ergehe mich dafür verloren unter Welten.

Die Sinfonie der Weisheiten und Peinen,

Die sich des Abends an mein Bett gesellten,

Sie raunten leise meinem Herzen zu:

Du leibst im merkantilen Dunstkreis;

Wem reichst deine Seelengaben zu?

Erlitten Fron geziemte sich der Preis,

Die du in Zeilen legst ergeben nieder

Im siechen Körper eh’rn gebannt

Auf Mut gerichtet, häufig bieder

Der Welt entfremdet und verkannt.