Vielleicht
würde es Ilja nur dieses eine Mal gelingen, von seiner Freiheit Gebrauch zu
machen? Nein, nein, keine Heldentat; es wäre fatal, die eigenen Kräfte derart
zu überschätzen. Was aber, wenn er es schaffen würde, sich selbst die Wahrheit
zu sagen? Ein kleiner Schritt, ein unmerklicher fast, denn außer Ilja selbst
kannte niemand seine Wahrheit. Wie würde es seine Welt ändern, wenn er diese
Wahrheit sich selbst in ihrer ganzen Deutlichkeit eingestehen würde? Bis jetzt
hat er es sich noch nie erlaubt, die leidige, auf sein Gemüt drückende Wahrheit
in Worte zu fassen; er kannte sie nur ungefähr, aus Magen- Kopf- und
Spannungsschmerzen, aus Alpträumen und schweren Gemütszuständen.
Ilja machte
sich einen kräftigen Tee, zündete eine Zigarette an und setzte sich in den
Garten.
Wie sah sie
aus? Wo sollte man anfangen, sie in Worte zu fassen? Wo hat alles seinen
Anfang? Ilja lehnte sich zurück und nahm einen Schluck bitteren Tees. Der
Mensch ist, dem Grunde nach, ein autonomes Wesen. Er ist es oder er kann es
sein. Die Umgebung, in der ein Mensch lebt, sie verflicht ihn mit ihren Normen,
Vorstellungen, mit ihren liebevollen und leisen Forderungen. Was für ein
flexibler Antagonismus, der sich durch des Menschen Leben schleicht. Auf der
einen Seite wird durch alle Fernrohre, welche die Menschheit sich hat einfallen
lassen, an ihn herangetragen, wie frei, wie autonom und wie unabhängig die
Menschen sein können. Im Grunde genommen, ist es so; theoretisch ist der Mensch
frei. Ganz besonders gern glaubt sich der Mensch in der sogenannten Freien Welt
frei. Das muss er auch, sonst wäre der Name albern und anmaßend. Wenn er es
schaffen könnte, seine Entscheidungen allein aus Vernunftgründen zu treffen,
wäre er frei – so postulierte es einst Immanuel Kant, Iljas großer Vordenker. Jedoch,
wenn man auf der Suche nach der eigenen Freiheit zu den Anfängen, also in die
Kindheit zurückkehrt, was findet man dort vor? Gewiss keine Vernunft. Das ist
die Wurzel der Wahrheit und zugleich die des Übels. Als Kinder sind die
Menschen nicht vernünftig und können deswegen nicht frei sein. Wie können dann
die Menschen aus ihrer, in der Kindheit erlernten, Unfreiheit Vernunft lernen?
Ilja zog
nervös an der Zigarette; war seine mutige Unternehmung schon gescheitert? Nein,
so funktioniert Vernunft nicht. Sie kommt mit der Bildung und mit den Jahren.
Nach und nach ist es dem Menschen möglich, die Fesseln, die er sich seit den
Kindertagen hat anlegen lassen, abzuschälen, um sein wahres Wesen zu entdecken.
Vielleicht
ist das ja der Grund für den ewigen Generationenkonflikt, für die Rebellion der
Jugend gegen die Autorität der Erwachsenen? In ihrer Pubertät entdecken junge
Menschen ihre Vernunft und stellen fest, dass sie sich fremden Vorstellungen
gebeugt haben und dass die Illusion, das (für jemanden) Richtige zu tun, sie
nicht länger glücklich macht. Warum hat Ilja nie rebelliert? Er dachte
angestrengt nach. Das Bedürfnis, sich gegen jemanden oder etwas aufzulehnen, kam
in ihm nie auf. Er hat nie rebelliert, weil er immer versucht hat, vernünftig
zu sein. Alle seine emotionalen Stürme suchte der kleine Ilja mit dem zu
beruhigen, was er als Kind für Vernunft hielt. Schicht um Schicht legten sie
sich mit den Jahren um Iljas Herz und machten es schwer und fühlig. Frieden aus
Erschöpfung ist besser als Krieg aus Überzeugung – er war zu müde, um die im
Grab seiner tiefen Seele beigelegten Wirbelwinde wieder zu beleben.
Andererseits wusste er jeden einzelnen derselben beim Namen zu nennen; konnte
spüren, wie sie ihn riefen und hallten und heulten, wie eingesperrte Wildhunde.
Ilja drückte die Zigarette aus. Kämpfen oder schlichten? Die schattige Wahrheit
bäumte sich auf. Die Vernunft ward erwachsen. …
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