Theoretisch wusste Ilja,
dass er frei war. Praktisch wusste er nicht, was das bedeutet. Er war gefangen
in seiner Freiheit.
Er sah sich um in seinem kleinen Universum. Ein helles
Zimmer mit weißer Raufasertapete und vielen Bildern an den Wänden. Ein Bett,
ein Schreibtisch, Regale mit Büchern; in einer Ecke das eingerahmte
Universitätsdiplom. Das sind Iljas Reliquien, dafür hat er gelebt. Das Geld
reicht nicht für eine eigene Wohnung. Deswegen lebt er in demselben Raum, in
dem er auch aufgewachsen ist. In diesem kleinen Raum hat Ilja fast alle
wichtigen Etappen seines Lebens durchlebt. Hier hat er zum ersten Mal seine
Mutter angelogen, hier war er zum ersten verliebt und hatte hier auch seinen
ersten Liebeskummer. Hier lernte er für alle wichtigen Prüfungen und fiel in
allem durch, wofür er nicht gelernt hatte. Hier hat er all seine Ängste zuerst
kennengelernt. Hier hat er ihnen nachgegeben. Und deswegen ist er immer noch hier.
Über Versagen redet man nicht, wenn man den Versager
lieb hat. Das ist auch nicht nötig. Manchmal sagt Schweigen mehr als alle Worte
der Welt es tun könnten. Und manchmal gibt es einfach nichts zu sagen. Ilja
wusste nicht, was es über die Bilanz seines bisherigen Lebens zu sagen gäbe. Er
war, mit einigen wenigen Ausnahmen, ein braver Schüler. Er war ein guter
Student. Er hatte nie den Mut, nach seinem Studium eine psychologische Praxis
zu eröffnen oder sonst in seinem Beruf tätig zu werden – nicht aus Faulheit,
nein. Aus Angst. Er hatte Angst, sich zu irren; Angst, jemandem seine
Sichtweise aufzuzwingen. Das kann Leben verändern. Davor ängstigte sich Ilja am
meisten. Und so kam es, dass er, aus Angst jemandes Leben zu verändern, es
versäumte, sein eigenes zu verändern.
Die Gefühle, die Iljas Brust seit Jahren oder
vielleicht auch seit Jahrzehnten beherbergte, waren komplex und verflochten. Er
fühlte sich schuldig, nicht mehr erreicht zu haben, als kleine Jobs, die ihm
gerade mal eine Krankenversicherung und etwas Taschengeld bescherten. Er fühlte
sich auch schuldig, seiner Mutter auf der Tasche zu liegen. Er wusste, dass er
sie nicht gerade ausnimmt, das Haus war abbezahlt und ihre Rente und
Witwenrente bescherten ihnen ein ruhiges und recht unabhängiges Leben. All die
Kleinigkeit, die Ilja brauchte, konnte er sich selbst finanzieren. Er fühlte
sich schuldig, dass er nichts vorzuweisen hatte. Keine Familie, keine Karriere;
keine atemberaubenden Urlaube oder aufregende Affären. Iljas gesellschaftliches
Leben beschränkte sich auf drei Besuche pro Woche in der kleinen Bar um die
Ecke. Dort trank er jeweils drei Alsterwasser und rauchte fünf Zigaretten –
denn sein Wochenpensum an Zigaretten lag bei genau einer Packung.
Zwei seiner fünf Freunde
arbeiteten in derselben Bar. Das waren Menschen, die ähnlich wie Ilja, bescheiden
waren in ihrer Lebensbilanz und das machte sie tolerant in ihren Urteilen über
das Leben. Ist das das wahre Wesen der Toleranz? Steht dahinter bloß die Angst,
auf das eigene Versagen hingewiesen zu werden? Ilja nickte. Ja, das war der
Grund, warum er keine harschen Urteile fällen konnte. Wer war er, um andere zu
richten? Er kam ja nicht einmal mit sich selbst klar.
Und wieder mal Zeilen die mich zum grübeln bringen. Knüpft nahtlos an Teil3 an.
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