Donnerstag, 30. Juli 2015

Iljas Welt #4


Theoretisch wusste Ilja, dass er frei war. Praktisch wusste er nicht, was das bedeutet. Er war gefangen in seiner Freiheit.
Er sah sich um in seinem kleinen Universum. Ein helles Zimmer mit weißer Raufasertapete und vielen Bildern an den Wänden. Ein Bett, ein Schreibtisch, Regale mit Büchern; in einer Ecke das eingerahmte Universitätsdiplom. Das sind Iljas Reliquien, dafür hat er gelebt. Das Geld reicht nicht für eine eigene Wohnung. Deswegen lebt er in demselben Raum, in dem er auch aufgewachsen ist. In diesem kleinen Raum hat Ilja fast alle wichtigen Etappen seines Lebens durchlebt. Hier hat er zum ersten Mal seine Mutter angelogen, hier war er zum ersten verliebt und hatte hier auch seinen ersten Liebeskummer. Hier lernte er für alle wichtigen Prüfungen und fiel in allem durch, wofür er nicht gelernt hatte. Hier hat er all seine Ängste zuerst kennengelernt. Hier hat er ihnen nachgegeben. Und deswegen ist er immer noch hier.

Über Versagen redet man nicht, wenn man den Versager lieb hat. Das ist auch nicht nötig. Manchmal sagt Schweigen mehr als alle Worte der Welt es tun könnten. Und manchmal gibt es einfach nichts zu sagen. Ilja wusste nicht, was es über die Bilanz seines bisherigen Lebens zu sagen gäbe. Er war, mit einigen wenigen Ausnahmen, ein braver Schüler. Er war ein guter Student. Er hatte nie den Mut, nach seinem Studium eine psychologische Praxis zu eröffnen oder sonst in seinem Beruf tätig zu werden – nicht aus Faulheit, nein. Aus Angst. Er hatte Angst, sich zu irren; Angst, jemandem seine Sichtweise aufzuzwingen. Das kann Leben verändern. Davor ängstigte sich Ilja am meisten. Und so kam es, dass er, aus Angst jemandes Leben zu verändern, es versäumte, sein eigenes zu verändern. 
Die Gefühle, die Iljas Brust seit Jahren oder vielleicht auch seit Jahrzehnten beherbergte, waren komplex und verflochten. Er fühlte sich schuldig, nicht mehr erreicht zu haben, als kleine Jobs, die ihm gerade mal eine Krankenversicherung und etwas Taschengeld bescherten. Er fühlte sich auch schuldig, seiner Mutter auf der Tasche zu liegen. Er wusste, dass er sie nicht gerade ausnimmt, das Haus war abbezahlt und ihre Rente und Witwenrente bescherten ihnen ein ruhiges und recht unabhängiges Leben. All die Kleinigkeit, die Ilja brauchte, konnte er sich selbst finanzieren. Er fühlte sich schuldig, dass er nichts vorzuweisen hatte. Keine Familie, keine Karriere; keine atemberaubenden Urlaube oder aufregende Affären. Iljas gesellschaftliches Leben beschränkte sich auf drei Besuche pro Woche in der kleinen Bar um die Ecke. Dort trank er jeweils drei Alsterwasser und rauchte fünf Zigaretten – denn sein Wochenpensum an Zigaretten lag bei genau einer Packung.
Zwei seiner fünf Freunde arbeiteten in derselben Bar. Das waren Menschen, die ähnlich wie Ilja, bescheiden waren in ihrer Lebensbilanz und das machte sie tolerant in ihren Urteilen über das Leben. Ist das das wahre Wesen der Toleranz? Steht dahinter bloß die Angst, auf das eigene Versagen hingewiesen zu werden? Ilja nickte. Ja, das war der Grund, warum er keine harschen Urteile fällen konnte. Wer war er, um andere zu richten? Er kam ja nicht einmal mit sich selbst klar.

1 Kommentar:

  1. Und wieder mal Zeilen die mich zum grübeln bringen. Knüpft nahtlos an Teil3 an.

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