Viele Nächte hintereinander durchlebte Ilja denselben Traum und wachte
um dieselbe Uhrzeit auf. Den Rest der Nacht, bis zum Sonnenaufgang, verbrachte
er in der Küche, dessen Fenster ihm einen wunderbaren Blick auf den einsamen
Mond erlaubte. Auch heute ging Ilja in die Küche, goss sich ein Glas kalte
Milch ein und setzte sich auf die Fensterbank, um mit dem Mond zu reden.
Was bedeutete dieser Traum? Warum war es nicht möglich, ihn zu
vergessen und einfach weiter zu schlafen? Der Traum war so leer und
ereignisarm, warum wühlte er nur so auf?
Ilja liebte den Mond; er schien so einsam, wie Ilja sich fühlte und
weckte in ihm Erkenntnisse und Überlegungen, die, solange Ilja sie mit dem Mond
teilte, gestochen scharf und einprägend schienen und er wünschte sich jede
Nacht, diese Erkenntnisse mit in den Tag zu nehmen. Vielleicht würde es Ilja
dann endlich gelingen, dieses eine langersehnte Ereignis in seinem Leben
herbeizuführen, welches es prachtvoll und aufregend macht. „Jeder Augenblick,
in dem du atmest, ist auch einer, in dem du lebst“, sagte der Mond, aber Ilja
wollte nicht hören. Der Mann, der im Mondlicht auf der Fensterbank seiner Küche
kauerte, den Kopf zwischen die Knie geklemmt, war weit von dieser Einsicht
entfernt. Ihn plagten antlitzlose Geister dessen, was nicht gewesen ist. Nicht
gesagte Worte tanzten mit schüchternen Sehnsüchten den Trauerreigen des Abschieds.
Ilja atmete seit über 40 Jahren, ohne je gelebt zu haben. Ereignisse
zogen an ihm vorbei, Tage, Wochen und Monate reihten sich in Jahre und Dekaden
ein. Der Schlummerschlaf, den er sein Leben nannte, machte ihn nicht
unglücklich. Das Aufwachen war es, was Ilja ängstigte.
Er hat sich so lange ein Leben voller kribbelnder Erregung gewünscht.
Seine Jugend verbrachte er in freudiger Erwartung; das Studium zog sich hin und
Iljas Leitüberzeugung, ein bedeutungsvolles Leben sei sein Geburtsrecht,
verhieß ihm eine aufregende Zukunft, die sich ganz selbstverständlich nach dem
Studium ereignen würde.
Doch es geschah nichts dergleichen. Die Welt bemerkte weder seine
Bemühungen, noch deren Abwesenheit und ging ihren gewohnten Gang. So stellte
Ilja gleich nach seinem Studium fest, dass es keine Arbeit und keinen Beruf
gab, für den er geschaffen worden wäre; ihm fehlte jedwede Selbstsicherheit, um
im Berufsleben bestehen zu können. Ilja ängstigte sich vor allem und am meisten
vor sich selbst.
Etwas im Leben zu erreichen, bedeutete, sich selbst Ausdruck zu
verleihen. Davor hatte Ilja am meisten Angst. Weder wusste er, wie das geht,
noch wusste er, wer er war. Er hat sein Leben damit verbracht, jemand zu sein,
von dem er glaubte, es sein zu sollen, weil irgendjemand es von ihm erwartet
haben könnte. Ilja war seinerzeit ein guter Schüler; später war er ein guter
Student. Er gab sich immerzu Mühe, ein guter Sohn zu sein; von Zeit zur Zeit
versuchte er, ein guter Liebhaber zu sein. Und er war stets bemüht, ein guter
Mensch zu sein – was jedoch aus diesem Sammelsurium an Persönlichkeiten am
ehesten seiner eigenen entsprach, das vermochte er nicht zu sagen.
Iljas Bereitschaft zu Erkenntnis dieser grundlegenden Schwierigkeit
gipfelte in einem Hauch der kritischen Selbsterkenntnis, die allerdings über
ein gelegentliches Ausschimpfen vor dem Spiegel nicht hinausging.
Und allmählich, ohne es zu merken, verfiel er in einen Dämmerzustand,
in dem er weder fühlte noch hoffte, noch etwas erwartete.
Aus diesem Zustand zu erwachen, bedeutete, eine Entscheidung zu
treffen, eine Richtung einzuschlagen. Würde Ilja es schaffen, lange genug wach
zu bleiben, um einen Weg und ein Ziel zu wählen? …
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