Den Tag verbrachte Ilja in der Regel im Versuch, sich einer Aufgabe zu
widmen. Die Tatsache, dass er mit Anfang 40 im Hause seiner Mutter lebte,
belegt mehr als deutlich, dass er bei diesen Versuchen grundsätzlich
scheiterte.
Der heutige Tag forderte nicht viel von Ilja. Eine Handvoll
Telefonate, um seine Existenz bürokratisch zu sichern, mehr war heute nicht von
Nöten. Doch manchmal kann so wenig auch so viel sein. In Gedanken war Ilja bei
ihr. Das Haus fing an, ihn zu beengen …
Der große Garten war sonnengeflutet. Die Astern erblühten in allen
Größen und Farben und standen in ihrer Prächtigkeit der Sinnlichkeit der roten
Rosen in nichts nach. Die Seerosen schwammen majestätisch auf dem zart vom
Winde geküssten, kleinen Gartensee und lockten allerlei Insekten an.
Ilja wollte träumen. Seinen Blick, seine Sehnsucht dem Ozean
anvertrauen und träumen. Der Ozean; der geheimnisvolle Riese, unerforscht und
unergründet, wie sein Herz. Und genauso geheimnisvoll. Was kann man auf seinem
Grunde finden? Allerhand. Mutige Seemänner sind auf die Suche gegangen und haben
alles Mögliche gefunden und mitgebracht. Und manchmal haben sie etwas gefunden,
das sie nicht mitbringen konnten. Manches Gefundene behielt die Seemänner.
Wie ist es mit dem Herzen? Wenn Ilja so tief eintauchte, würde er dort
einen Schatz finden, den er mitnehmen kann? Oder wird ihn das Gefundene
einholen und behalten?
Er hatte solch eine Angst hinab zu tauchen – warum dann all die
Sehnsucht?
Eine Brise brachte die Seeluft und einen Hauch der Fröhlichkeit auf
den Schwingen der vom Hafen her ertönenden Blasmusik. Die Fröhlichkeit
zerschellte an seinem schmerzgetränkten Herzen wie ein Segel an einem Felsen.
Der Ozean rief und rauschte, er versprach Ilja das Ungewisse und das
Geheimnisvolle. Doch was würde ihm das Fremde bringen? Angst und Scheu mischten
sich der Sehnsucht bei. Er fühlte sich seiner Gegenwart so ungewöhnlich nah und
verbunden. Er weinte still in sich hinein, wollte Vergebung finden für seine
Feigheit, hören, dass alles gut ist, so, wie es ist.
Er schaute sie eindringlich, fast flehend an. Sie tat Ilja leid, diese
fremde Frau, ohne Namen und Geschichte, die ihm so lange Zeit ein
Hoffnungsschimmer, ein Zukunftsanker für ein neues, ihn erwartendes Leben
schien. Aber jetzt sah Ilja den Ozean und verstand, dass er Angst hatte. Er
hatte Angst vor dem Ozean, vor der Frau und vor dem Unbekannten. Ilja war die
Angst; die Angst war größer als jede Sehnsucht, die sein Herz gebären konnte.
Jetzt sah Ilja die Frau als das an, was sie für ihn in Wirklichkeit war:
eine Fremde. Sie hatte Ilja Hoffnung gegeben; dafür war er voller Dankbarkeit.
Jetzt war es an Ilja, der Fremden Hoffnung zu nehmen und es tat Ilja leid.
Seine Erkenntnis war gleichermaßen einfach und tiefgreifend – es ist nicht
immer Freiheit, gehen zu können. Manchmal ist Freiheit auch das Bleiben dürfen.
Die
entscheidende Frage stellte sich Ilja ja doch nicht – ob es wohl Freiheit war,
bleiben zu dürfen oder ob er mal wieder der Ängstlichkeit frönte?
Hi und einen wunderschönen guten Morgen! Bin heute früh beim stöbern bei Google+ auf diesen Eintrag gestoßen.
AntwortenLöschenNach den ersten Zeilen habe ich eine parallele zu meinem Leben gesehen und im weiteren Verlauf deiner Erzählung konnte ich mich mehr und mehr mit ihr identifizieren. Merkwürdiges Gefühl!
Sehr schöner Beitrag
LG Marcel
Vielen Dank! Das ehrt mich sehr. Es wird auf jeden Fall eine Fortsetzung geben! LG, Inessa
AntwortenLöschenHabe die heutige Nacht mal wieder zum Tage gemacht, wie es vielleicht auch "Iljas" schon des öfteren getan haben könnte. Und weil mich "IW#3" immer noch zum grübeln bringt, bin ich wieder hier. Ich habe die Trilogie "IW" mehrere male gelesen aber "IW#3" ist einfach...
AntwortenLöschenGibt es jemand der dich zu dieser Erzählung inspiriert hat oder ist es reine Poesie?
LG Marcel
Hallo Marcel,
Löschendanke für deine Worte ...
Die Erzählung ist ein wenig was von beidem - sie ist inspiriert und sie ist Poesie. Sie ist Leben ...
LG,
Inessa