Dienstag, 21. Januar 2020

In Memoriam

Ilja nahm sich viel Zeit, um hinter die Fassade zu blicken.
Das Leben schreitet unerbittlich voran; auch der Tod vermag es nicht aufzuhalten.
 »Mir ist, als stünde ich vor dem Antlitz der eigenen Vergänglichkeit und Nichtigkeit, die mir mein Spiegelbild im dunklen Fenster entgegenhält. So viele Ahnungen und Vorbestimmungen aus der Jugend, wo sind sie alle hin? Seit ich mir meiner bewusst ward, vernahm ich, dass eine Berufung, ein Verhängnis meinem seltsamen Lebenswege beigelegt war; ich bin so viele wundersame Pfade gegangen, doch nirgends hat sich die Vorahnung erfüllt - bis sie ganz und gar entschwunden schien. Ist das, was das Alter parat hält, Lassheit und Einöde? Ist das jenes Gefühl, das uns auf den Abschied vorbereitet? Hat mich mein Animus betrogen? Oder habe ich ihn betrogen? Das soll kein Klagelied werden; mein Erdenleben war von Anbeginn an mit so viel Liebe beseelt, dass die meisten Menschen alles geben würden, um Derartiges einmal erfahren zu dürfen. Obgleich der Liebe jederzeit dankbar, habe ich mich stets gefragt, womit ausgerechnet ich sie verdient habe?
Wie konnte es mir passieren, dass aus all der Liebe, die mir geschenkt, nichts als Ängstlichkeit hervorging und das Unvermögen, der so tief empfundenen Bestimmung zu folgen? Das meiste meiner Zeit und Kraft habe ich darauf verwendet, mich konventionell zu fühlen, anstatt mich zu fügen und zu begreifen, wer ich bin. Jetzt, da ich mir meiner Zeitlichkeit bewusst zu werden beginne, weiß ich die Antwort.
Der Magie des Universums in den Sternen willfahrend, habe ich im Geraune der Gräser und im Chor der Winde den Frohgesang der Schöpfung vernommen; meine Schuldigkeit bestand allein darin, Worte zu finden, für die Hymnen des Weltenbaus.
Solange habe ich Taubheit geheuchelt; so viel Schönheit und Weisheit sind in den Tiefen meiner Seele erblüht und zu Staub zerfallen. Das ist es, was mir die Trauer meines Herbstes beschert. Die Jugend habe ich mit Suchen und Zweifeln verbracht; war bemüht, ein »Ich« zu finden, von dem ich glaubte, das würde der Welt, wie ich sie sah, besser gefallen, anstatt den Mut aufzubringen, mein wahres »Ich« aufzurichten. Kein Kampf ist so verheerend und keine Lohe so verzehrend, wie die, die man in und gegen sich selbst ausficht. Da man gleichermaßen Sieger und Besiegter bleibt. Jetzt, an der Schwelle zur Reife, habe ich, außer eines verwüsteten Schlachtfeldes, nichts vorzuweisen - der Krieg um sich selbst bringt keine äußeren Trophäen. Dieses eine Mal nur will ich klüger sein; anstatt mich, wie gewohnt, in Scham der Konvention zu beugen und mich entweder mit den Fetzen meiner Erfolge zu brüsten oder mich hinter den Mauern der Rechtfertigung meiner Niederlagen zu verschanzen, will ich lernen zu SEIN.
Ich bin der Stein, der sich als Vogel träumt; mein freier Fall - der einzig Flug, zu dem ich fähig - bringt mich heim ...«

Riesen erheben sich langsam; es liegt nicht in der Natur des Bedeutenden, zu hasten. Die Reife tritt allmählich, fast unmerklich ein und bleibt eine Weile unbemerkt. Wie sich das Licht der aufgehenden Sonne langsam vom Horizont aus über die Welt ergießt, so überkommt auch die Reife das Gemüt - unerwartet und gleichsam lang ersehnt ...

4 Kommentare:

  1. Tiefsinnig und wunderschön.
    Unglaubliche Wortfindung.
    Sehr reicher Wortschatz.
    Noch nie sowas schönes, poetisches und tiefgründig philosophisches gelesen.

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  2. Finde ich ergreifend, sehr poetisch, ehrlich und schön geschrieben!

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