Hinter meinem Fenster ist es noch
immer heller als es im Zimmer ist. Ich warte voller Sehnsucht auf die
Dunkelheit – ich brauche dich, du weiser Erdtrabant. Wie ich schon sagte, gibt
es sonst niemanden, dem ich mein Herz öffne. Und es gibt sonst niemanden, der
mein Herz versteht.
Ich
zünde eine Kerze an und stelle sie auf das Fensterbrett und meinem Freund zu
Füßen. So ist sie am besten sichtbar und ich kann ihr Feuer beschwören und
anrufen um die eine Stimme in der nahenden Nacht. Die Dunkelheit birgt ein
besonderes, ihr ganz eigenes Geheimnis und ihre Farbe, dieses verschwendende
Dunkelgrau, verleiht ihr die Macht, alles um sich herum ihr eigen zu machen.
Sogar Gedanken, die keine feste Form haben, kann sie vereinnahmen und sie
umformen nach ihrem Belieben und Gutdünken. Umhüllt von der Dunkelheit und
ihrer Macht erlegen, tausche ich die stumpfe Leere in meiner Brust gegen die
Vorahnung eines düsteren Mysteriums, das mir bevorsteht. Ich tauche ein und
lasse mich fallen.
„Einsamkeit – hast du sie nicht
erfunden? Ich erinnere mich an Zeiten, da wolltest du in einem Kloster leben,
nur um allein zu sein. Und jetzt weinst du darum?“
„Ich weine doch nicht um die
Einsamkeit. Wie auch, ich bin nie allein. Ich weine um das Unverstanden-Sein.
Das ist eine andere Einsamkeit, als die, die ich im Kloster zu finden
erträumte. Siehe dich an – du bist auch nie allein. Alle schauen zu dir auf, du
schaust zu allen darnieder. Aber es hat dich noch keiner gefragt, was du
fühlst, oder? Hat dir jemand schon unterstellt, du fühltest etwas Bestimmtes
oder tätest es nicht? Hat es dich geschmerzt?“
„Du armes Herz, ich bin ein Himmelskörper.
Hast du eine Vorstellung, wie lange ich bereits die Zeit begleite? Ich bin über
die Nichtigkeiten der menschlichen Empfindung erhaben. Ich bin mit mir und
Allem, Was Ist im Reinen – wie sollte ich etwas anderes als Liebe erfahren?“
„Ich bin ein Mensch. Ich bin schwach.
Ich leide.“
Ich suche Gründe und
einen Ort für mein schweres Herz. In meinen Gedanken ziehe ich los in die
umliegende Weite und finde den Ort, der meine Schwermut kennt. Das monumentale
Gelände der Gedenkstätte Neuengamme, welches heute noch das Leid des Gewesenen
umweht; ich passiere es, um der Zeit und ihrer ewiglichen Vergänglichkeit
Respekt zu zollen.
Die Zeit, der
geheimnisvolle Magier des Lebens, ob es etwas gibt, dass sie noch nie gesehen
hat? Sie kennt alles, was ist und war, zu jedem Zeitpunkt seiner Existenz; das
lange Leid und das kurze Glück. Nur Wenige hatten die Ehre, so lange mit der Zeit
zu gehen, bis auch sie die irdische Vergänglichkeit erfassten.
Der ewige Zyklus der
Entstehung und des Niedergangs, dem alles Irdische von Anbeginn an geweiht ist;
Königreiche und Religionen, die ihrer selbst gehuldigt haben, bis ihre Anhänger
zu Staub zerfallen und alles Andenken an diese Gefallenen seinen Sinn entbehrt
hat. Manchmal hat es ganze Jahrhunderte lang gedauert und viele Generationen
sind gekommen und gegangen bis alles Gedenken unter einer Lavaschicht verborgen
wurde.
Doch kaum hat die Zeit
einen Zyklus zu Grabe getragen, da hat das Leben bereits mehrere neue
sternenwärts keimen lassen.
Das Leben, dieser ewige
Impuls der Möglichkeiten, in welcher Beziehung steht es zu der Zeit? Ist die
Zeit der stille Begleiter, der alles Werden und Vergehen in der Erdschicht
konserviert, bis der blinde Zufall oder die adleräugige Voraussicht die Zeit
anweist, das Verborgene preiszugeben? Oder ist sie des Lebens Gegenspieler, die
alles, was je emporstieg, gnadenlos dem Tode weiht, auf dass der Impuls aufs
Neue genährt werde?
Das Archiv der
Gedenkstätte ist seit 1981 mühsam und gegen vielerlei Widerstand aufgebaut
worden. Die Menschen gedenken nicht grundsätzlich gerne, manchmal muss man sie
davon überzeugen, dass etwas ihrer Erinnerung würdig ist.
Wir bewerten die
Historie. Wir geben dem Geschehenen eine Bedeutung oder wir sprechen sie ihm
ab.
Es hat eine Zeit gegeben,
da war die Vernichtung von Karthago ein jedes Ausmaß an Gräueltat
übersteigendes Ereignis. Aber nach gut zwei Tausend Jahren legt niemand mehr
Blumen an ein Monument nieder. Es wird noch in den Schulen unterrichtet, doch
niemand weint mehr darüber, niemand errichtet Gedenkstätten.
In zwei tausend Jahren
wird da noch jemand an die Opfer der ersten beiden Weltkriege gedenken?
Steht das Gedenken an ein
Ereignis in irgendeiner messbaren Relation zu diesem Ereignis? Die Menschen
mögen den Eindruck haben, dass eine Begebenheit umso bedeutender und
nachhaltiger sei, je intensiver ihrer gedacht wird – und für eine Weile mag das
sogar stimmen. Doch was geschieht, wenn die Erinnerung verblasst? Büßt das
Geschehene automatisch an Bedeutung ein?
Aus der Sicht der Zeit
betrachtet, sind Ereignisse doch nichts weiter als mit Daten und Namen
versehene Abschnitte. Bedeutung wird ihnen durch die Menschen verliehen. Und
sobald die Menschen aufhören, einer Begebenheit ihre Bedeutung beizumessen,
wird diese zu einer weiteren Kerbe auf der Messlatte der Zeit.
Die
Neuengammer Landschaft, ein kahles Stück Land, voll von Feldern; allein um die
Gedenkstätte wurden Bäume gepflanzt, die zwar weder der Sicht noch dem Wind das
ungehinderte Passieren verweigern, den Ort aber erhöhen, ihn auf ihre Wurzeln
wie auf einen Podest stellen.
Ich
frage mich, ob wir imstande sind, aus der Geschichte zu lernen? Die positive
Antwort auf diese Frage ist eine der Grundsäulen im Rechtfertigungsversuch der
Geschichtswissenschaft um den Vorwurf ihrer Begründung und
Wissenschaftlichkeit.
Geschichte
ist wichtig, damit die Menschheit daraus lernen kann – was hat die Menschheit
gelernt?
Wir gedenken
den Schrecken unserer Vergangenheit in der Hoffnung, auf diese Weise daraus
gelernt zu haben und sie nicht zu wiederholen.
Doch
unsere Gegenwart steht nicht unter dem Primat der aus der Geschichte gewonnenen
Wahrheit und Weisheit. Unsere Gegenwart steht unter dem Primat der Politik –
geleitet von Menschen, deren Absichten, Motivationen und Taten, mit ganz
wenigen Ausnahmen, zweifelhaft oder gar unehrenhaft sind.
Wir sind
wandelnde im Nebel. Unsere Vergangenheit ist ein Produkt selektiver Analyse und
die zwielichtigen Führer der Gegenwart gebrauchen sie für das Tagesgeschäft der
Politik.
Wir
errichten Denkmäler, legen Blumen nieder, wollen, dass sich die Vergangenheit
niemals wiederhole – doch kann eine Wiederholung der Geschichte dadurch
verhindert werden, dass die Furcht vor dem Leid hoch gehalten wird?...
Nein,
sie kann es nicht. Die jüngsten Ereignisse zeigen es. Die Menschen können
jederzeit einander Feind werden und Schreckliches aneinander verüben.
Das
Morden in der Geschichte hat noch nie aufgehört. Einige von uns haben nur Glück
und sind so weit davon entfernt, dass ihnen durch Nachrichten und Zeitung
eingeredet werden kann, dass es entweder keinen Krieg gäbe oder dass er geführt
werde, um Menschlichkeit zu verteidigen.
Menschen,
die dem Geschehen nahe sind, kann man so etwas nicht einreden – sie sehen den
Tod, diesen Schatten des Krieges auf ihren Straßen. Sie wissen Bescheid.
Aber
uns, die wir den Krieg nie erlebt haben, kann man einreden, dass tote
Separatisten eine gute Nachricht seien.
Die
Geschichtswissenschaft ist ein Opfer der Manipulation – Kriege sind immer das
Tagesgeschäft der Politik. Wenn sie lange genug her sind und das Leid uns nicht
mehr ergreift, besteht eine kleine Chance, sie als das zu entlarven, was sie
schon immer waren: Eine große Tragödie ohne jede Bedeutung.
Wozu
dann die Gedenkstätten? Wozu die Denkmäler und die Moral, die wir so gern aus
der Geschichte gelernt hätten?
Das gibt
uns das Gefühl des Unterschiedes zwischen Richtig und Falsch. Diese Gefühle
nähren unsere Überzeugungen, die wir haben und für die wir einstehen, mit
Worten und Taten. Wir führen Kriege und beschuldigen die jeweils anderen –
unterscheiden wir uns denn überhaupt von einander?
Nein,
das tun wir nicht. Wir sind Menschen, sind schwach, einsam und wir leiden. Wir
leiden, weil unser Gegenüber nicht unseren Pathos, unsere Euphorie oder unsere
Überzeugung teilt. Wir leiden, weil er sie nicht zum Ausdruck bringt oder weil
er sie zum Ausdruck bringt. Manchmal sehen wir uns von den verschiedenen Ufern unserer
Empfindung aus an und leiden gleichzeitig um den jeweils anderen. Gibt es denn
kein Entrinnen?
„Möchtest
du denn entrinnen? Glaubst du nicht viel eher, in dem von dir beweinten Leid
diejenige Weisheit zu finden, für die du auch zu leben glaubst?“
„Wie
viel der Weisheit ist nötig, um nicht mehr zu leiden?“
„Armes
Kind. So lange übst du schon und hast noch immer nicht begriffen, dass sie
unbegrenzt sind – das Leid und die Weisheit. Du allein bestimmst, wie viel du
von beidem brauchst. Alles hängt von deiner Frage ab.“
Ich schrecke hoch. Die
Kerze ist niedergebrannt und ihr Docht erliegt seinen letzten Zuckungen. Halb
zitternd übergebe ich die Kälte meinem Bademantel und verlasse meine
Denkkanzel. Frage… Was für eine Frage, in der Fülle der Möglichkeiten? „Na die,
die dir auf der Seele brennt“, sagt der Mond gütig. „Du weißt schon, die eine,
die so einfach klingt und doch nicht beantwortet werden kann – warum bist du
hier?“