Dienstag, 16. Juni 2015

Monddialog #2



Hinter meinem Fenster ist es noch immer heller als es im Zimmer ist. Ich warte voller Sehnsucht auf die Dunkelheit – ich brauche dich, du weiser Erdtrabant. Wie ich schon sagte, gibt es sonst niemanden, dem ich mein Herz öffne. Und es gibt sonst niemanden, der mein Herz versteht.
Ich zünde eine Kerze an und stelle sie auf das Fensterbrett und meinem Freund zu Füßen. So ist sie am besten sichtbar und ich kann ihr Feuer beschwören und anrufen um die eine Stimme in der nahenden Nacht. Die Dunkelheit birgt ein besonderes, ihr ganz eigenes Geheimnis und ihre Farbe, dieses verschwendende Dunkelgrau, verleiht ihr die Macht, alles um sich herum ihr eigen zu machen. Sogar Gedanken, die keine feste Form haben, kann sie vereinnahmen und sie umformen nach ihrem Belieben und Gutdünken. Umhüllt von der Dunkelheit und ihrer Macht erlegen, tausche ich die stumpfe Leere in meiner Brust gegen die Vorahnung eines düsteren Mysteriums, das mir bevorsteht. Ich tauche ein und lasse mich fallen.
„Einsamkeit – hast du sie nicht erfunden? Ich erinnere mich an Zeiten, da wolltest du in einem Kloster leben, nur um allein zu sein. Und jetzt weinst du darum?“
„Ich weine doch nicht um die Einsamkeit. Wie auch, ich bin nie allein. Ich weine um das Unverstanden-Sein. Das ist eine andere Einsamkeit, als die, die ich im Kloster zu finden erträumte. Siehe dich an – du bist auch nie allein. Alle schauen zu dir auf, du schaust zu allen darnieder. Aber es hat dich noch keiner gefragt, was du fühlst, oder? Hat dir jemand schon unterstellt, du fühltest etwas Bestimmtes oder tätest es nicht? Hat es dich geschmerzt?“
„Du armes Herz, ich bin ein Himmelskörper. Hast du eine Vorstellung, wie lange ich bereits die Zeit begleite? Ich bin über die Nichtigkeiten der menschlichen Empfindung erhaben. Ich bin mit mir und Allem, Was Ist im Reinen – wie sollte ich etwas anderes als Liebe erfahren?“
„Ich bin ein Mensch. Ich bin schwach. Ich leide.“
Ich suche Gründe und einen Ort für mein schweres Herz. In meinen Gedanken ziehe ich los in die umliegende Weite und finde den Ort, der meine Schwermut kennt. Das monumentale Gelände der Gedenkstätte Neuengamme, welches heute noch das Leid des Gewesenen umweht; ich passiere es, um der Zeit und ihrer ewiglichen Vergänglichkeit Respekt zu zollen.
Die Zeit, der geheimnisvolle Magier des Lebens, ob es etwas gibt, dass sie noch nie gesehen hat? Sie kennt alles, was ist und war, zu jedem Zeitpunkt seiner Existenz; das lange Leid und das kurze Glück. Nur Wenige hatten die Ehre, so lange mit der Zeit zu gehen, bis auch sie die irdische Vergänglichkeit erfassten.
Der ewige Zyklus der Entstehung und des Niedergangs, dem alles Irdische von Anbeginn an geweiht ist; Königreiche und Religionen, die ihrer selbst gehuldigt haben, bis ihre Anhänger zu Staub zerfallen und alles Andenken an diese Gefallenen seinen Sinn entbehrt hat. Manchmal hat es ganze Jahrhunderte lang gedauert und viele Generationen sind gekommen und gegangen bis alles Gedenken unter einer Lavaschicht verborgen wurde.
Doch kaum hat die Zeit einen Zyklus zu Grabe getragen, da hat das Leben bereits mehrere neue sternenwärts keimen lassen.  
Das Leben, dieser ewige Impuls der Möglichkeiten, in welcher Beziehung steht es zu der Zeit? Ist die Zeit der stille Begleiter, der alles Werden und Vergehen in der Erdschicht konserviert, bis der blinde Zufall oder die adleräugige Voraussicht die Zeit anweist, das Verborgene preiszugeben? Oder ist sie des Lebens Gegenspieler, die alles, was je emporstieg, gnadenlos dem Tode weiht, auf dass der Impuls aufs Neue genährt werde?
Das Archiv der Gedenkstätte ist seit 1981 mühsam und gegen vielerlei Widerstand aufgebaut worden. Die Menschen gedenken nicht grundsätzlich gerne, manchmal muss man sie davon überzeugen, dass etwas ihrer Erinnerung würdig ist.
Wir bewerten die Historie. Wir geben dem Geschehenen eine Bedeutung oder wir sprechen sie ihm ab.
Es hat eine Zeit gegeben, da war die Vernichtung von Karthago ein jedes Ausmaß an Gräueltat übersteigendes Ereignis. Aber nach gut zwei Tausend Jahren legt niemand mehr Blumen an ein Monument nieder. Es wird noch in den Schulen unterrichtet, doch niemand weint mehr darüber, niemand errichtet Gedenkstätten.
In zwei tausend Jahren wird da noch jemand an die Opfer der ersten beiden Weltkriege gedenken?
Steht das Gedenken an ein Ereignis in irgendeiner messbaren Relation zu diesem Ereignis? Die Menschen mögen den Eindruck haben, dass eine Begebenheit umso bedeutender und nachhaltiger sei, je intensiver ihrer gedacht wird – und für eine Weile mag das sogar stimmen. Doch was geschieht, wenn die Erinnerung verblasst? Büßt das Geschehene automatisch an Bedeutung ein?
Aus der Sicht der Zeit betrachtet, sind Ereignisse doch nichts weiter als mit Daten und Namen versehene Abschnitte. Bedeutung wird ihnen durch die Menschen verliehen. Und sobald die Menschen aufhören, einer Begebenheit ihre Bedeutung beizumessen, wird diese zu einer weiteren Kerbe auf der Messlatte der Zeit.
Die Neuengammer Landschaft, ein kahles Stück Land, voll von Feldern; allein um die Gedenkstätte wurden Bäume gepflanzt, die zwar weder der Sicht noch dem Wind das ungehinderte Passieren verweigern, den Ort aber erhöhen, ihn auf ihre Wurzeln wie auf einen Podest stellen.
Ich frage mich, ob wir imstande sind, aus der Geschichte zu lernen? Die positive Antwort auf diese Frage ist eine der Grundsäulen im Rechtfertigungsversuch der Geschichtswissenschaft um den Vorwurf ihrer Begründung und Wissenschaftlichkeit.
Geschichte ist wichtig, damit die Menschheit daraus lernen kann – was hat die Menschheit gelernt?
Wir gedenken den Schrecken unserer Vergangenheit in der Hoffnung, auf diese Weise daraus gelernt zu haben und sie nicht zu wiederholen.
Doch unsere Gegenwart steht nicht unter dem Primat der aus der Geschichte gewonnenen Wahrheit und Weisheit. Unsere Gegenwart steht unter dem Primat der Politik – geleitet von Menschen, deren Absichten, Motivationen und Taten, mit ganz wenigen Ausnahmen, zweifelhaft oder gar unehrenhaft sind.
Wir sind wandelnde im Nebel. Unsere Vergangenheit ist ein Produkt selektiver Analyse und die zwielichtigen Führer der Gegenwart gebrauchen sie für das Tagesgeschäft der Politik.
Wir errichten Denkmäler, legen Blumen nieder, wollen, dass sich die Vergangenheit niemals wiederhole – doch kann eine Wiederholung der Geschichte dadurch verhindert werden, dass die Furcht vor dem Leid hoch gehalten wird?...
Nein, sie kann es nicht. Die jüngsten Ereignisse zeigen es. Die Menschen können jederzeit einander Feind werden und Schreckliches aneinander verüben.
Das Morden in der Geschichte hat noch nie aufgehört. Einige von uns haben nur Glück und sind so weit davon entfernt, dass ihnen durch Nachrichten und Zeitung eingeredet werden kann, dass es entweder keinen Krieg gäbe oder dass er geführt werde, um Menschlichkeit zu verteidigen.
Menschen, die dem Geschehen nahe sind, kann man so etwas nicht einreden – sie sehen den Tod, diesen Schatten des Krieges auf ihren Straßen. Sie wissen Bescheid.
Aber uns, die wir den Krieg nie erlebt haben, kann man einreden, dass tote Separatisten eine gute Nachricht seien.
Die Geschichtswissenschaft ist ein Opfer der Manipulation – Kriege sind immer das Tagesgeschäft der Politik. Wenn sie lange genug her sind und das Leid uns nicht mehr ergreift, besteht eine kleine Chance, sie als das zu entlarven, was sie schon immer waren: Eine große Tragödie ohne jede Bedeutung.
Wozu dann die Gedenkstätten? Wozu die Denkmäler und die Moral, die wir so gern aus der Geschichte gelernt hätten?
Das gibt uns das Gefühl des Unterschiedes zwischen Richtig und Falsch. Diese Gefühle nähren unsere Überzeugungen, die wir haben und für die wir einstehen, mit Worten und Taten. Wir führen Kriege und beschuldigen die jeweils anderen – unterscheiden wir uns denn überhaupt von einander?
Nein, das tun wir nicht. Wir sind Menschen, sind schwach, einsam und wir leiden. Wir leiden, weil unser Gegenüber nicht unseren Pathos, unsere Euphorie oder unsere Überzeugung teilt. Wir leiden, weil er sie nicht zum Ausdruck bringt oder weil er sie zum Ausdruck bringt. Manchmal sehen wir uns von den verschiedenen Ufern unserer Empfindung aus an und leiden gleichzeitig um den jeweils anderen. Gibt es denn kein Entrinnen?
„Möchtest du denn entrinnen? Glaubst du nicht viel eher, in dem von dir beweinten Leid diejenige Weisheit zu finden, für die du auch zu leben glaubst?“
„Wie viel der Weisheit ist nötig, um nicht mehr zu leiden?“
„Armes Kind. So lange übst du schon und hast noch immer nicht begriffen, dass sie unbegrenzt sind – das Leid und die Weisheit. Du allein bestimmst, wie viel du von beidem brauchst. Alles hängt von deiner Frage ab.“
Ich schrecke hoch. Die Kerze ist niedergebrannt und ihr Docht erliegt seinen letzten Zuckungen. Halb zitternd übergebe ich die Kälte meinem Bademantel und verlasse meine Denkkanzel. Frage… Was für eine Frage, in der Fülle der Möglichkeiten? „Na die, die dir auf der Seele brennt“, sagt der Mond gütig. „Du weißt schon, die eine, die so einfach klingt und doch nicht beantwortet werden kann – warum bist du hier?“

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