Dienstag, 16. Juni 2015

Monddialog #1



Der Mond scheint durch mein Fenster und leuchtet die Tiefen meines Herzens aus.
Ich habe viele Jahre in der Vorahnung von etwas Großartigem, das mich im Leben erwartet, gelebt. Dieser Umstand hat mich seit frühester Kindheit in die Tagträumereien unermesslicher Dimensionen entführt, in denen ich Geschöpfe erschuf und Unterhaltungen führte, die weit jenseits von allem Gekanntem lagen.
Aber ich habe nie herausgefunden, was das großartige Geschenk war, welches mein Leben mir machen würde. In meiner Kindheit war diese Vorahnung derart intensiv, dass keinerlei Raum für den Zweifel an ihrer Richtigkeit bestanden hat. Aber es ist nichts geschehen, was die Vorahnung gestillt hätte.
Ich erinnere mich an viele Glücksmomente meiner Kindheit. Ich sehne mich oft nach dem Gefühl zurück, getragen und beschützt zu sein. Die Welt hat mir damals keine Angst gemacht, denn für mich wurde gesorgt.
Allmählich, plätschernd fast, ist dieses Gefühl dem, was wir Menschen Realität nennen gewichen. In den Wogen der fortschreitenden Zeit ist die Liebe unmerklich langsam geschrumpft und an ihre Stelle ist die Angst getreten, die, da sie ohne konkrete Umrisse geblieben ist, ihren erstarrenden Schleier über mein Handeln gelegt hat.
Keine konkrete Angst, die benannt, gar beschrien werden kann, nein, es ist eine leichtfüßige Flüsterin, die mein Leben so scheinbar vernünftig lähmt. Sie ist es, die in entscheidenden Lebensmomenten die Unsicherheit über mein Haupt ausschüttet und mich damit zur Untätigkeit oder Umkehr zwingt; ihre Zweifel sind oft größer als meine Überzeugungen.
In diesen Zweifeln hat sich meine Vorahnung wie eine Spur im Sande verlaufen; geblieben ist die stille Rüge, sich ihr ergeben zu haben.
Ich erinnere mich, wie ich als Kind in den Sommerferien ganz früh aufgewacht bin und, die Hände voller Leckereien, mich auf die Aussentreppe des Hauses zu meinem treuen Wachhund, Bimm, gesetzt habe. Er hat die Schmankerl augenblicklich verschlungen und wir haben im Schatten unseres Heimes geschmust, während die Steppe um uns herum durch die Glut der erstarkenden Sonne geröstet wurde.
Mein Herz war in diesen Augenblicken so voller Zuversicht, dass alles auf der Welt in vollkommener Harmonie ist. Damals, als ich dieses großartige Gefühl der glückseligen Erwartung verspürt habe, habe ich gedacht, es würde irgendwann ein bedeutendes Ereignis mein Leben ereilen, der eben dieses Gefühl erfüllen würde wie eine Prophezeiung.
Heute, 25 Jahre weiser, verstehe ich, dass es die Glückseligkeit selbst war, die mir unter der brennenden Sonne der russischen Steppe zuteilwurde.
Das Glück der Welt besteht in der frohen und liebevollen Erwartung an das Leben – kein Ereignis ist geeignet, diese Hoffnung zu erfüllen, denn sie selbst ist eine Glücksempfindung und damit bereits erfüllt.
Geschehnisse des Seins sind nicht dazu gedacht, uns Frohsinn oder Trübsal zu bescheren – sie sind die Gegebenheiten unseres Lebens. Wie alle Tatsachen können auch sie unterschiedlich bewertet werden. Doch wie will man das Glück bewerten? Es ist ein erhebendes Gefühl in der Brust, das Liebe und Wonne schenkt.
Mein Hochgefühl habe ich nach und nach verloren, als ich anfing die Realitäten meines Daseins auszuwerten und mein Herz für meinen schwindenden Glauben auszuschimpfen.
Ein leiser Ruf meines Herzens erwacht jedoch im Mondschein, er hallt und schmerzt in meiner leer gewordenen Brust. Das Herz will Gerechtigkeit für all die Liebe – ich soll mich fragen, ob das Leben mir zu wenig geschenkt hat? Oder habe ich es nur falsch beurteilt?
In der Stille der schlaflosen Nacht halte ich inne und flüstere dem Mond: „Du bist der Einzige, der versteht“.
„Nein, ich bin der Einzige, zu dem du ehrlich bist“ antwortet er.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen